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Jetzt versuchten die Planungsgruppen auf diesen frühen Erfolgen aufzubauen und eine breitere Menge größerer Pflanzen einzuführen, sowie einige Insekten, die so gezüchtet waren, daß sie den hohen Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre vertrugen. Biotique besaß ein umfangreiches Material an Musterpflanzen zur Entnahme von Chromosomen und außerdem 17 M-Jahre an Daten über Feldversuche. Damit hatte Sax eine Menge zu tun, um aufs laufende zu kommen. In seinen ersten Wochen im Labor und in dem Arboretum der Firma auf dem Hunt-Plateau konzentrierte er sich ganz auf die neue Pflanzenart und war zufrieden, sich seinen Weg in das größere Bild zu gegebener Zeit zu bahnen.

Inzwischen gab es, wenn er nicht an seinem Pult mit Lesen beschäftigt war oder durch die Mikroskope blickte oder in die diversen Gefäße mit Marsgewächsen schaute oder oben im Arboretum war, für Stephen Lindholm noch genug tägliche Arbeit, um ihn beschäftigt zu halten. Im Labor war es nicht allzusehr anders, als wenn er Sax Russell wäre. Aber am Ende der Arbeitstage konnte er sich oft angestrengt bemühen und mit der Gruppe zusammenkommen, die nach oben in eines der Cafes auf dem Plateau ging, um etwas zu trinken und über ihr Tagewerk und auch alles mögliche andere zu plaudern.

Selbst dort fand er es überraschend leicht, Lindholm zu ›sein‹, der, wie er fand, eine Menge Fragen stellte und oft lachte. Dessen Mund das Lachen irgendwie erleichterte.

Fragen der anderen — gewöhnlich von Claire und einer englischen Immigrantin namens Jessica und einem Kenyaner namens Berkina — hatten sehr selten etwas zu tun mit Lindholms Vergangenheit auf der Erde. Wenn es dazu kam, fand Sax es leicht, eine minimale Antwort zu geben. Desmond hatte Lindholm eine Vergangenheit gegeben in Saxens Heimatstadt Boulder in Colorado, was sehr geschickt war. Und dann konnte er die Frage auf den Fragenden zurückwenden in einer Technik, die er oft bei Michel beobachtet hatte. Die Leute waren so glücklich zu plaudern. Und Sax selbst war nie ein besonders Stiller gewesen wie Simon. Er hatte bei Gesprächen immer mit hohem Einsatz gespielt; und wenn er später gelegentlich etwas beigesteuert hatte, war es deshalb, weil er nur interessiert war, wenn die Gewinnchancen ein gewisses Mindestniveau erreichten. Belangloses Geplauder war für gewöhnlich Zeitverschwendung. Aber es ließ immerhin Zeit vergehen, die sonst unangenehm leer gewesen wäre. Es schien auch Gefühle von Einsamkeit zu mildern. Und seine neuen Kollegen führten ohnehin meist recht interessante Fachgespräche. Und so leistete er seinen Beitrag und erzählte ihnen von seinen Spaziergängen um Burroughs herum und stellte ihnen viele Fragen über das, was er gesehen hatte, und nach ihrer Vergangenheit und nach Biotique und der Lage auf dem Mars und so weiter. Das war für Lindholm ebenso sinnvoll wie für Sax.

Bei diesen Gesprächen bestätigten seine Kollegen, besonders Claire und Berkina, was ihm bei seinen Spaziergängen klar geworden war, nämlich daß Burroughs in gewisser Weise de facto die Hauptstadt des Mars wurde, indem die Zentralen aller größten Transnationalen dort ihren Sitz hatten. Die Transnationalen waren derzeit die effektiven Herren auf dem Mars. Sie hatten es der Elfergruppe und den anderen reichen Industrienationen ermöglicht, den Krieg von 2061 zu gewinnen oder mindestens zu überleben; und jetzt waren sie alle in einer einzigen Machtstruktur verflochten, so daß es nicht klar war, wer auf der Erde die Entscheidungen traf, die Länder oder die Suprakorporationen. Aber auf dem Mars war das ganz klar. UNOMA war 2061 zusammengebrochen wie eine Kuppelstadt, und das Amt, welches an ihre Stelle getreten war, die Übergangsbehörde der UN, war eine Verwaltungsgruppe, die mit leitenden Persönlichkeiten der Transnationalen besetzt war auf Grund von Erlassen, die transnationale Sicherheitskräfte erzwungen hatten. »Die UN hat eigentlich nichts damit zu tun«, sagte Berkina. »Damit ist der Name nur eine Tarnung.«

»Jeder nennt sie sowieso nur die Übergangsbehörde«, erklärte Claire.

»Sie können sehen, wer wer ist«, sagte Berkina. Und wirklich sah man in Burroughs häufig uniformierte transnationale Sicherheitspolizei. Sie trug rostfarbene Arbeitspullover mit Armbinden in verschiedenen Farben. Nicht gerade bedenklich, aber sie war da.

»Aber warum?« fragte Sax. »Wovor haben sie Angst?«

Claire sagte lachend: »Sie befürchten, daß Bogdanovisten aus den Bergen herauskommen. Das ist lächerlich.«

Sax zog die Augenbrauen hoch und sagte nichts dazu. Er war neugierig, aber das war ein gefährliches Thema. Lieber bloß zuhören, wenn es von selbst zur Sprache kam. Wenn er aber durch Burroughs spazierte, beobachtete er danach die Leute schärfer und achtete auch bei der Sicherheitspolizei, die unterwegs war, darauf, wozu sie nach Ausweis ihrer Armbinden jeweils gehörte. Consolidated, Amexx, Oroco … Er fand es seltsam, daß sie keine einheitliche Truppe gebildet hatten. Möglicherweise waren die Transnationalen immer noch ebensosehr Rivalen wie Partner. Das würde natürlich zu konkurrierenden Sicherheitssystemen führen. Vielleicht würde das auch die Flut von Identifikationssystemen erklären, welche es Desmond ermöglichte, seine Personae in ein System einzuschleusen und dann anderswohin schleichen zu lassen. Die Schweiz war offenbar geneigt, einige Leute zu decken, die aus dem Nichts in ihr System kamen, wie Saxens Erfahrung mit seiner eigenen Person bewies. Und ohne Zweifel verhielten sich andere Länder und Transnationale genauso.

Also erzeugte bei der jetzigen politischen Lage die Informationstechnik nicht Totalisierung, sondern Balkanisierung. Arkady hatte eine solche Entwicklung vorhergesagt, aber Sax hatte eine solche Möglichkeit für irrational gehalten. Jetzt mußte er einräumen, daß es so weit gekommen war. Die Computernetze konnten mit den Ereignissen nicht Schritt halten, weil sie untereinander im Wettstreit lagen. Und so war es auch mit der Polizei in den Straßen, die nach Leuten wie Sax Ausschau hielt.

Aber er war Stephen Lindholm. Er hatte Lindholms Zimmer in der Hunt Mesa und seine Routinen und Gewohnheiten und seine Vergangenheit. Sein kleines Studio-Apartment sah ganz anders aus als etwas, worin Sax hätte wohnen mögen. Die Kleidung war im Schrank, es gab keine Experimente im Kühlschrank oder auf dem Bett. Es waren nicht einmal Drucke an den Wänden von Escher oder Hundertwasser, nur einige unsignierte Skizzen von Spencer — eine Indiskretion, die gewiß nicht zu entdecken war. Er war in seiner neuen Identität sicher. Und selbst wenn man ihn entdecken sollte, bezweifelte er, daß die Ergebnisse allzu verheerend sein würden. Er könnte sogar in der Lage sein, zu etwas wie seiner früheren Macht zurückzufinden. Er war immer unpolitisch gewesen, nur an Terraformung interessiert. Und er war wegen des Wahnsinns von ’61 untergetaucht, weil es so aussah, als wäre es gefährlich, das nicht zu tun. Ohne Zweifel würden einige der jetzigen Transnationalen es so sehen und versuchen, ihn anzuwerben.

Aber all das war hypothetisch. In Wirklichkeit konnte er sich im Leben von Lindholm etablieren.

Als er das tat, entdeckte er, daß ihm seine Arbeit viel Freude machte. In den alten Tagen als Chef des ganzen Terraformungsprojekts war es unmöglich gewesen, in der Verwaltung nicht steckenzubleiben oder sich über sämtliche Aufgaben zu verzetteln in dem Bemühen, von allem genug zu wissen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Natürlich hatte das zu mangelnder Tiefe in jeder Einzeldisziplin geführt, was zu einem Verlust an Einsicht führte. Aber jetzt war seine ganze Aufmerksamkeit darauf konzentriert, für das einfache Ökosystem, das in den glazialen Regionen befürwortet worden war, neue Pflanzen zu entwickeln. Einige Wochen lang arbeitete er an der Schaffung einer neuen Flechte, welche die Grenzen der neuen Bioregionen erweitern sollte und auf einem Chasmoendolithen aus dem Wright Valley in der Antarktis beruhte. Die ursprüngliche Flechte hatte in den Ritzen des antarktischen Gesteins gelebt; und hier wollte Sax dasselbe machen. Aber er versuchte den Algenteil der Flechte durch eine schnellere Alge zu ersetzen, damit der neue Symbiont schneller wachsen sollte als sein Vorbild, das ungemein langsam war. Gleichzeitig versuchte er, dem Pilzteil der Flechte einige preatophytische Gene aus salzverträglichen Pflanzen wie Tamariske und Gurkenkraut einzufügen. Diese konnten bei einem Salzgehalt dreimal so hoch wie Meerwasser leben, und der Mechanismus, der etwas mit der Durchlässigkeit von Zellwänden zu tun hatte, war irgendwie übertragbar. Wenn ihm das gelänge, würde das Ergebnis eine sehr robuste und schnell wachsende neue Salzflechte sein. Es war sehr ermutigend, den Fortschritt zu sehen, der auf diesem Gebiet erzielt worden war seit ihren ersten Versuchen seinerzeit in Underhill, einen Organismus zu schaffen, der auf der Oberfläche überleben würde. Natürlich war die Oberfläche damals schwieriger gewesen. Aber sie hatten auch große Fortschritte in Genetik und der Fülle ihrer Methoden gemacht.