Sax fand, daß er ziemlich kühl geworden war. Natürlich war Kühle ein Charakterzug von Sax. Wahrscheinlich hätte er sich ganz überschwenglich auf sie stürzen müssen und sagen, daß er sie aus den alten Videos kannte und seit vielen Jahren bewunderte etc. Allerdings konnte er sich nicht vorstellen, wie jemand Phyllis bewundern könnte. Gewiß war sie recht kompromittiert aus dem Krieg herausgekommen — auf der Seite der Gewinner, aber als einzige der Ersten Hundert, die sich so entschieden hatten. Nannte man so etwas einen Quisling? Irgend so etwas. Nun, sie war nicht die einzige der Ersten Hundert gewesen. Vasili war stets in Burroughs geblieben, und George und Edvard waren mit Phyllis auf Clarke gewesen, als dieser sich von dem Kabel trennte und aus der Ebene der Ekliptik hinausgeschleudert wurde. Das zu überleben war wirklich ein sauberes Stück Arbeit gewesen. Er hätte es nicht für möglich gehalten. Aber da war sie nun und plauderte mit der Schar ihrer Bewunderer. Zum Glück hatte er vor einigen Jahren gehört, daß sie überlebt hatte. Sonst wäre ihr Anblick ein Schock gewesen.
Sie sah immer noch wie etwa sechzig Jahre alt aus, obwohl sie im gleichen Jahr wie Sax geboren war und jetzt also 115 war. Mit silbernem Haar und blauen Augen, ihr Schmuck aus Gold und Blutstein, die Bluse aus einem Stoff, der in allen Regenbogenfarben changierte. Gerade jetzt war ihr Rücken leuchtend blau; er wurde aber smaragdgrün, als sie sich umwandte, um ihn über die Schulter anzusehen. Er tat so, als ob er den Blick nicht bemerkte.
Dann kamen die Fahrer, und sie stiegen in die Rover und waren unterwegs. Glücklicherweise befand Phyllis sich in einem der anderen Wagen. Die Rover waren große, mit Hydrazin betriebene Fahrzeuge, und sie fuhren auf einer Betonstraße direkt nach Norden, so daß Sax nicht sah, warum spezielle Fahrer benötigt würden, außer wenn es darum ging, mit der Geschwindigkeit der Wagen fertig zu werden. Sie rollten mit ungefähr einhundertsechzig Kilometern in der Stunde dahin, und Sax, der an Rovergeschwindigkeiten von einem Viertel dessen gewöhnt war, fand, daß es schnell und glatt voranging. Die anderen Passagiere beklagten sich darüber, wie holprig und langsam die Fahrt wäre. Offenbar glitten jetzt Expreßzüge mit etwa sechshundert Stundenkilometern über die Pisten.
Der Arenagletscher lag etwa achthundert Kilometer nordwestlich von Burroughs. Er ergoß sich von den Bergen der Syrtis Major nach Norden auf Utopia Planitia. Er verlief ungefähr dreihundertfünfzig Kilometer weit in einem Graben der Arena Fossae. Claire, Berkina und die anderen im Wagen erzählten Sax die Geschichte des Gletschers, und er tat sein Bestes, um starkes Interesse zu zeigen. Es war auch wirklich interessant; denn sie wußten, daß Nadia den Ausbruch des Arena-Wasserreservoirs verfolgt hatte. Einige Leute, die damals bei Nadia gewesen waren, waren nach dem Krieg in South Fossa gelandet. Dort war die Geschichte erzählt worden und hatte sich in der Öffentlichkeit herumgesprochen.
Diese Leute schienen tatsächlich zu glauben, daß sie viel über Nadia wüßten. Claire sagte Sax im Vertrauen: »Sie war gegen den Krieg und tat alles, was sie konnte, um ihm Einhalt zu gebieten und den Schaden wieder gutzumachen, noch während es geschah. Menschen, die sie in Elysium gesehen haben, sagten, daß sie überhaupt niemals schliefe, sondern ständig Anregungsmittel nehme, um in Gang zu bleiben. Es hieß, sie hätte sechstausend Leben gerettet in der Woche, da sie um South Fossa tätig war.«
»Was ist aus ihr geworden?« fragte Sax.
»Das weiß niemand. Sie ist aus South Fossa verschwunden.«
»Sie wollte nach Low Point«, sagte Berkina. »Wenn sie dort gerade zur Zeit der Flut angekommen ist, kam sie wahrscheinlich ums Leben.«
»Ah!« Sax nickte feierlich. »Das war eine schlimme Zeit.«
»Sehr schlimm«, sagte Ciaire heftig. »So destruktiv. Ich bin sicher, sie hat die Terraformung um Jahrzehnte zurückgeworfen.«
»Obwohl die Wasserausbrüche nützlich gewesen sind«, murmelte Sax.
»Ja, aber die hätte man auch in kontrollierter Weise erzeugen können.«
»Stimmt.« Sax zuckte die Achseln und ließ die Konversation ohne ihn weitergehen. Nach der Begegnung mit Phyllis war es etwas zu viel, in eine Diskussion über ’61 zu geraten.
Er konnte immer noch nicht recht glauben, daß sie ihn erkannt hatte. Das Passagierabteil, in dem sie waren, hatte über den Fenstern blanke Magnesiumverkleidungen, und dort sah man neben den Gesichtern seiner neuen Kollegen auch das kleine Gesicht von Stephen Lindholm. Ein kahlköpfiger alter Mann mit etwas gebogener Nase, welche die Augen etwas falkenhaft erscheinen ließ. Ausgeprägte Lippen, ein starker Unterkiefer, ein Kinn — nein, das sah ihm gar nicht ähnlich. Kein Grund, weshalb sie ihn hätte erkennen sollen.
Aber das Aussehen war nicht alles.
Er versuchte, nicht daran zu denken, als sie nordwärts über die Straße brummten. Er konzentrierte sich auf die Aussicht. Das Passagierabteil hatte ein kuppeiförmiges Oberlicht sowie Fenster an allen vier Seiten, so daß er eine Menge sehen konnte. Sie fuhren den Abhang von West Isidis empor, einen Teil der Großen Böschung, der wie ein großer rasierter Deich aussah. Die gezackten dunklen Berge von Syrtis Major erhoben sich über dem Nordwesthorizont scharf wie Sägeblätter. Die Luft war klarer als in den alten Tagen, obwohl sie inzwischen fünfzehnmal so dick war. Aber es gab weniger Staub darin, da Schneestürme den Grus hinunterdrückten und auf der Oberfläche in einer Kruste fixierten. Natürlich wurde diese Kruste oft durch starke Winde zerbrochen, und die Partikel gelangten wieder in die Luft. Aber diese Bruchstellen waren auf einzelne Stellen beschränkt, und die den Himmel säubernden Stürme bekamen langsam die Oberhand.
Und auch der Himmel änderte seine Farbe. Ganz oben zeigte er ein üppiges Violett, über den westlichen Bergen war er weißlich, das in Lavendel überging und ein Violett, für das Sax keinen Namen kannte. Das Auge konnte Differenzen der Lichtfrequenz in einigen wenigen Wellenlängen unterscheiden. Darum reichten die paar Namen für die Unterschiede zwischen Rot und Blau keineswegs aus, um die Phänomene zu beschreiben. Aber wie man sie auch benennen mochte oder auch nicht — es gab jetzt ganz andere Himmelsfarben als das Braun und Rosa der frühen Jahre. Natürlich würde ein Staubsturm dem Himmel immer wieder den ursprünglichen Ockerton zurückgeben. Aber wenn die Atmosphäre ausgewaschen wurde, war ihre Farbe eine Funktion ihrer Dichte und chemischen Zusammensetzung. Gespannt darauf, wie sie in der Zukunft aussehen würde, nahm Sax seinen Computer aus der Tasche und fing an zu rechnen.
Er starrte auf den kleinen Kasten und erkannte plötzlich, daß es der von Sax Russell war. Wenn man ihn untersuchte, würde er ihn verraten. Das war so, als ob man einen echten Paß bei sich hätte.
Er verwarf diesen Gedanken, da man jetzt nichts daran ändern konnte. Er konzentrierte sich auf die Farbe des Himmels. Bei sauberer Luft wurde die Himmelsfarbe hauptsächlich durch Lichtstreuung in den Luftmolekülen selbst verursacht. Damit war die Dichte der Atmosphäre kritisch. Der Luftdruck hatte bei ihrer Ankunft etwa 10 Millibar betragen und lag jetzt bei durchschnittlich 160. Aber da der Luftdruck durch das Gewicht der Luft erzeugt wurde, hatte es auf dem Mars ungefähr dreimal so viel Luft erfordert, 160 Millibar über irgendeiner Stelle zu erzielen, als ein solcher Druck auf der Erde erfordert hätte. Also mußten die 160 Millibar hier ebensoviel Licht streuen wie 480 Millibar auf der Erde. Das bedeutete, der Himmel über ihnen sollte etwa die dunkelblaue Farbe haben, wie man sie auf Fotos sieht, die im Gebirge über viertausend Meter Höhe aufgenommen sind.
Aber die Farbe, welche die Fenster und das Oberlicht ihres Rovers erfüllte, war etwas mehr rötlich; und selbst an klaren Morgen nach schweren Stürmen hatte Sax sie nicht so blau wie den irdischen Himmel gesehen. Er dachte weiter darüber nach. Ein anderer Effekt der geringeren Schwere auf dem Mars war, daß die Luftsäule höher reichte als auf der Erde. Es war möglieh, daß die feinsten Gruspartikel praktisch im Schwebezustand waren und über die Höhe der meisten Wolken hinausgetragen wurden, wo sie nicht mehr von Stürmen weggerissen werden konnten. Sax erinnerte sich, daß man Dunstschichten fotografiert hatte, die mindestens fünfzig Kilometer hoch lagen, weit über den Wolken. Ein anderer Faktor könnte die Zusammensetzung der Atmosphäre sein. Kohlendioxidmoleküle streuen das Licht stärker als Sauerstoff und Stickstoff, und der Mars hatte den besten Bemühungen von Sax zum Trotz immer noch mehr CO2 in seiner Atmosphäre als die Erde. Die Effekte dieser Differenz würden sich berechnen lassen. Sax gab die Rayleighsche Gleichung für Streulicht ein, wonach die pro Einheitsvolumen Luft gestreute Lichtenergie der vierten Potenz der Wellenlänge der einfallenden Strahlung proportional ist. Dann kritzelte er seine Schreibtafel voll, änderte die Variablen, sah Handbücher nach oder füllte aus der Erinnerung geschätzte Größen ein.