Nach dem Abendessen gingen sie wieder in den Beobachtungsraum im obersten Stockwerk, und unter einer glitzernden Schüssel von Sternen wandte sich die Schar von Biotique der Musik zu. Es war das, was man Nuevo Calypso nannte, der Hit des Tages in Burroughs. Verschiedene Mitglieder der Gruppe holten Instrumente heraus und spielten, während andere sich in die Mitte des Raums begaben, um zu tanzen. Die Musik lief mit etwa hundert Taktschlägen pro Minute, schätzte Sax. Ein perfektes biologisches Zeitmaß, um die Herzen ein wenig anzuregen. Das Geheimnis der meisten Tanzmusik, nahm er an.
Und dann war Phyllis an seiner Seite, griff nach seiner Hand und zog ihn zwischen die Tänzer. Sax beherrschte sich, ihre Hand nicht wegzustoßen, und war sicher, daß seine Reaktion auf ihre lächelnde Aufforderung bestenfalls kümmerlich war. Er hatte nie im Leben getanzt, soweit er sich erinnern konnte. Aber so war nun einmal sein Leben. Stephen Lindholm hatte sicher viel getanzt. Also fing Sax an, sanft auf und ab zu hüpfen im Takt der Baßstahltrommel. Er schwenkte die Arme unsicher an der Seite und lächelte Phyllis an in einer verzweifelten Nachahmung lässigen Vergnügens.
Später an diesem Abend tanzten die jüngeren Biotiqueleute immer noch, und Sax nahm den Aufzug nach unten, um einige Tuben mit Eismilch aus der Küche zu holen. »Hier, hilf mir damit!« sagte Phyllis und nahm zwei der Plastikbeutel, die ihm an den Fingern baumelten. Als sie sich dann hinunterbeugte (sie war einige Zentimeter größer als er), küßte sie ihn voll auf den Mund. Er küßte zurück; aber es war so ein Schock, daß er nicht richtig zur Empfindung kam, als sie sich abwandte. Dann war die Erinnerung an ihre Zunge zwischen seinen Lippen wie ein zweiter Kuß. Er versuchte, nicht sehr verwirrt auszusehen; aber aus der Art ihres Lachens erkannte er, daß er versagt hatte. »Ich sehe, du bist gar nicht der Ladykiller, nach dem du aussiehst«, sagte sie. Das alarmierte ihn bei der gegebenen Situation noch mehr. Tatsächlich hatte ihm noch nie jemand so etwas angetan. Er versuchte, sich zusammenzunehmen, aber der Aufzug bremste, und die Türen öffneten sich zischend.
Während des Desserts und des Restes der Party näherte sich Phyllis ihm nicht wieder. Als aber der Zeitrutsch begann, ging er zu den Aufzügen, um wieder in sein Zimmer zu gelangen. Und als sich die Türen zu schließen begannen, schlüpfte Phyllis durch sie herein und küßte ihn wieder, als der Aufzug zu sinken anfing. Er legte die Arme um sie und küßte zurück, wobei er sich vorzustellen suchte, was Lindholm in einer solchen Lage tun würde und ob es irgendeinen Ausweg gäbe, der nicht zu Schwierigkeiten führte. Als der Aufzug bremste, lehnte Phyllis sich mit einem träumerischen unscharfen Blick an ihn und sagte: »Komm, bring mich in mein Zimmer!« Sax drehte sich etwas, ergriff ihren Arm wie ein empfindliches Laborgerät und ließ sich zu ihrem Zimmer führen, einer winzigen Kammer wie alle Schlafräume. In der Tür stehend, küßten sie sich wieder, obwohl Sax das sichere Gefühl hatte, daß dies seine letzte Chance zur Flucht war, elegant oder nicht. Aber er merkte, daß er ihre Küsse leidenschaftlich erwiderte. Und als sie sich zurückzog und murmelte: »Du könntest ebensogut hereinkommen«, folgte er ohne Widerrede. Tatsächlich hatte sich sein Penis schon halb versteift in seinem blinden Griff nach den Sternen, und alle seine Chromosomen brummten laut, die dummen Biester, bei seiner Chance zur Unsterblichkeit.
Es war lange her, daß er mit jemand außer Hiroko verkehrt hatte; und diese Kontakte, obwohl freundlich und angenehm, waren nicht leidenschaftlich, sondern mehr eine Verlängerung ihres Badens. Hingegen war Phyllis, die an ihren Kleidern hantierte, während sie sich küssend auf ihr Bett fielen, deutlich erregt. Und diese Erregung übertrug sich auf Sax durch eine Art unmittelbarer Berührung. Seine Erektion sprang ihm prompt frei aus der Hose, als Phyllis sie an seinen Beinen herunterzog, wie zu einer Demonstration der eigenwilligen Gen-Theorie; und er konnte nur lachen und an dem langen Taillenreißverschluß ihres Pullovers ziehen. Lindholm müßte frei von allen Bedenken gewiß durch die Begegnung aufgereizt sein. Also galt das jetzt auch für ihn. Außerdem kannte er Phyllis, auch wenn er sie nicht besonders mochte. Da war das alte Band der Ersten Hundert, die Erinnerung an jene gemeinsamen Jahre in Underhill — es lag etwas Provokatives in der Vorstellung, mit einer Frau Geschlechtsverkehr zu haben, die er schon so lange kannte. Und jeder andere unter den Ersten Hundert war polygam gewesen, wie es schien, jeder außer Phyllis und ihm. Also schickten sie sich jetzt dazu an. Und sie war sehr attraktiv. Es war auch wirklich etwas, das man sich wünschte.
Alle diese nüchternen Überlegungen waren in diesem Moment leicht und wurden im sexuellen Ansturm der Sinne völlig vergessen. Aber unmittelbar nach Ausübung des Aktes machte Sax sich schon wieder Sorgen. Sollte er in sein Zimmer gehen, sollte er bleiben? Phyllis war eingeschlafen mit einer Hand auf seiner Flanke, wie um sich zu vergewissern, daß er bleiben würde. Im Schlaf sahen alle wie Kinder aus. Er betrachtete ihren Körper und war wieder einmal leicht schockiert über den sexuellen Dimorphismus. Sie atmete so ruhig. Als ob sie bloß begehrt sein wollte. Ihre Finger waren noch an seine Rippen gedrückt. So blieb er also, aber er schlief nicht viel.
Sax ging an die Arbeit auf dem Gletscher und seiner Umgebung. Phyllis ging auch manchmal hinaus, war aber in ihrem Verhalten ihm gegenüber immer diskret. Sax zweifelte, ob Claire (oder Jessica) gemerkt hatten, was geschehen war, oder ob sonst jemand es gemerkt hatte oder erkannte, daß es alle paar Tage wieder passierte. Das war eine weitere Komplikation. Wie würde Lindholm auf Phyllis’ offenkundiges Verlangen nach Heimlichkeit reagieren? Aber letztlich kam es nicht darauf an. Lindholm war durch Ritterlichkeit oder Gefälligkeit oder etwas derartiges mehr oder weniger gezwungen, sich so zu verhalten, wie Sax es getan hätte. Und so behielten sie ihre Affäre für sich, ziemlich so, wie sie es in Underhill getan haben würden oder auf der Ares oder in Antarctica. Alte Gewohnheiten sind schwer auszurotten.
Und da der Gletscher Ablenkung bot, war es recht leicht, die Affäre geheimzuhalten. Das Eis und das zerklüftete Land um ihn herum war eine faszinierende Umgebung, und es gab da draußen viel zu studieren und zu versuchen, es zu verstehen.
Die Oberfläche des Gletschers erwies sich als äußerst zerbrochen, wie die Literatur hatte erwarten lassen. Mit Regolith vermischt während der Flut und durchsetzt mit Kohlenstoffeinschlüssen. Steine und Felsblöcke, die auf der Oberfläche eingefangen waren, hatten das Eis unter ihnen schmelzen lassen; und danach war es wieder gefroren in einem täglichen Zyklus, bei dem sie alle zu etwa zwei Dritteln eingetaucht blieben. Alle Eiszacken, die sich wie mächtige Dolmen über die zerrissene Fläche des Gletschers erhoben, erwiesen sich bei näherer Betrachtung als stark mit Löchern bedeckt. Das Eis war wegen der extremen Kälte brüchig und floß wegen der geringen Schwerkraft nur langsam bergab. Nichtsdestoweniger bewegte es sich nach unten wie ein Fluß in Zeitlupe. Und weil ihre Quelle leer war, würde die ganze Masse schließlich auf Vastitas Borealis landen. Und Anzeichen dieser Bewegung konnte man in dem frisch gebrochenen Eis jeden Tag erkennen — neue Spalten, umgefallene Eisnadeln, zerklüftete Eisberge. Diese frischen Flächen wurden rasch von kristallinen Eisblumen bedeckt, deren Salzgehalt die Kristallisation nur beschleunigte.
Durch dieses Milieu fasziniert, nahm Sax die Gewohnheit an, jeden Tag in der Morgendämmerung hinauszugehen. Er folgte mit Flaggen markierten Spuren, die die Stationscrew angelegt hatte. In der ersten Stunde des Tages glühte das ganze Eis in starken rötlichen Tönen, indem es Farben des Himmels reflektierte. Wenn direktes Sonnenlicht die zertrümmerten Flächen des Gletschers traf, begann aus den Spalten und mit Eis bedeckten Tümpeln Dampf aufzusteigen, und die Eisblumen glitzerten wie üppige Juwelen. An windstillen Morgen fing eine Inversionsschicht den Nebel in etwa zwanzig Metern Höhe ab und bildete eine dünne orangefarbene Wolke. Es war deutlich, daß das Wasser des Gletschers sich rasch in die Welt verteilte.