Als er durch die kalte Luft marschierte, erspähte Sax viele verschiedene Spezies von Schneealgen und Flechten. Die dem Gletscher zugekehrten Hänge der beiden seitlichen Grate waren besonders stark bevölkert, gefleckt mit kleinen Stellen von Grün, Golden, Oliv, Schwarz, Rost und vielen anderen Farben — im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig. Sax schlenderte vorsichtig über diese Pseudomoränen, als ob er sich ebenso scheute, auf pflanzliches Leben zu treten wie auf irgendein Experiment im Labor. Wenn es auch wohl nicht so aussah, als ob die meisten Flechten es bemerken würden. Sie waren widerstandsfähig. Nackter Fels und Wasser waren alles, was sie brauchten, dazu Licht, obwohl davon nicht viel notwendig zu sein schien. Sie wuchsen unter dem Eis, im Eis und sogar in porösen Brocken durchscheinender Felsen. In etwas so Gastfreundlichem wie einem Spalt in der Moräne gediehen sie prächtig. Jede Spalte, in die Sax blickte, erfreute sich an Knollen isländischer Flechte, gelb und bronze, die unter der Lupe feine gegabelte Stengel zeigten, umrahmt von Dornen. Auf flachen Felsen fand er die Krustenflechten — knopfartig, zapfenförmig, mit Schilden, cancellaria, apfelgrüne und rotorange Flechten, die auf eine Konzentration von Natriumnitrat im Regolith hinwiesen. Unter den Eisblumen ballten sich blasse graugrüne Islandflechten, von denen viele wie zarte Stickereien aussahen. Wurmflechten waren dunkelgrau und zeigten unter der Lupe verwitterte Geweihe, die äußerst zart aussahen. Und selbst wenn Stücke abbrachen, wuchsen die in ihren Pilzfäden eingeschlossenen Algenzellen einfach weiter und entwickelten sich zu noch mehr Flechten, die sich überall anhefteten, wo sie zur Ruhe kamen. Vermehrung durch Zerteilung, in einer solchen Umgebung wirklich nützlich.
Also gediehen die Flechten, und außer den Arten, die Sax identifizieren konnte mit Hilfe des kleinen Bildschirms auf seinem Armbandgerät, gab es noch viel mehr, die keiner verzeichneten Spezies zu entsprechen schienen. Er war an diesen nicht erfaßten so interessiert, daß er einige Proben pflückte, um sie mitzunehmen und Claire und Jessica zu zeigen.
Aber Flechten waren nur der Anfang. Auf der Erde nannte man Gebiete mit gebrochenem Gestein, das kürzlich durch zurückweichendes Eis freigelegt wurde, Blockfelder oder Talus. Auf dem Mars war die entsprechende Zone der Regolith — mithin der größere Teil der Oberfläche des Planeten. Taluswelt. Auf der Erde wurden diese Gebiete zuerst von Mikrobakterien und Flechten besiedelt, welche, zusammen mit chemischer Bewässerung, begannen, den Fels in einen dünnen unreifen Boden zu zerkleinern und langsam die Spalten zwischen Steinen aufzufüllen. Im Laufe der Zeit gab es in diesem Mutterboden genug organisches Material, um andere Pflanzenarten zu tragen. In diesem Stadium sprach man von Fellfields (fell ist das gälische Wort für Stein). Das war ein passender Name; denn es waren im Grunde Steinfelder, ein mit Steinen übersäter Boden, der Boden dazwischen und darunter weniger als drei Zentimeter dick, der eine Gemeinschaft kleiner, sich an den Boden schmiegender Pflanzen trug.
Und jetzt gab es auf dem Mars Fellfields. Claire und Jessica schlugen Sax vor, er möge den Gletscher überqueren und längs der Seitenmoräne stromabwärts klettern. Eines Morgens tat er das auch, entwischte Phyllis und machte nach etwa einer halben Stunde halt an einem kniehohen Steinblock. Unter ihm war ein feuchter Fleck flachen Bodens, der zu dem Felsentrog beim Gletscher abfiel und im späten Morgenlicht schimmerte. An den meisten Tagen lief offenbar Schmelzwasser darüber. Schon in der äußersten Stille des Morgens konnte er unter der Gletscherkante kleine Rinnsale tröpfeln hören. Es klang wie ein Chor aus winzigen hölzernen Glöckchen. Und auf dieser kleinen Wasserscheide waren zwischen den Fäden fließenden Wassers Farbflecken, die überall ins Auge sprangen — Blüten. Also ein Stück Fellfield mit seinem charakteristischen millefleur-Effekt. Die graue Fläche gesprenkelt mit Punkten in Rot, Blau, Gelb, Rosa, Weiß …
Die Blumen saßen auf kleinen Mooskissen zwischen haarigen Blättern. Alle Pflanzen drängten sich an den dunklen Boden, der wohl merklich wärmer war als die Luft darüber. Nur Grashalme ragten mehr als ein paar Zentimeter über den Boden. Sax ging vorsichtig auf Zehenspitzen von Stein zu Stein, um nicht auf eine einzige Pflanze zu treten. Er kniete sich auf den Kies, um einige kleine Gewächse zu betrachten. Die Lupe auf seiner Sichtplatte war auf stärkste Vergrößerung gestellt. Lebhaft hell im Morgenlicht strahlten die klassischen Organismen der Fellfields: Moosfeuernelken mit ihren Ringen aus winzigen roten Blüten auf dunkelgrüner Unterlage, ein Phloxkissen, fünf Zentimeter Sprosse von Blaugras wie Glas im Licht, das die Pfahlwurzel des Phloxes benutzte, um seine eigenen zarten Wurzeln zu verankern… Da war eine purpurne Alpenprimel mit ihrem gelben Auge und tiefgrünen Blättern, welche schmale Tröge bildeten, um Wasser in die Rosette zu leiten. Viele Blätter dieser Pflanzen waren behaart. Da war ein intensiv blaues Vergißmeinnicht, dessen Blütenblätter mit warnenden Anticyaniden so überschwemmt waren, daß sie fast purpurn wirkten — jener Farbe, die der Himmel des Mars bei rund 230 Millibar erreichen würde laut Saxens Berechnungen auf der Fahrt nach Arena. Es war überraschend, daß es für diese Farbe keinen Namen gab. Sie war so ausgeprägt. Vielleicht war es Cyanblau.
Der Morgen verging, während er sich langsam von einer Pflanze zur andern bewegte und den Feldführer seines Armbands benutzte zur Bestimmung von Sandwurz, Buchweizen, Katzenpfoten, Zwergklee und dessen Namensvetter Steinbrech, Saxifraga hirculus. Dessen kleine Zweige waren von langen Blättern bedeckt und endeten in kleinen blaßblauen Blüten.
Was die Flechten betraf, so gab es viele, die er nicht identifizieren konnte. Sie wiesen Merkmale unterschiedlicher Spezies auf, sogar von Arten, oder waren völlig unbekannt, ihre Züge eine seltsame Mischung von Eigentümlichkeiten exotischer Biosphären. Manche sahen aus wie Unterwassergewächse oder neue Arten von Kakteen. Vermutlich genetisch erzeugte Spezies, obwohl es überraschte, daß sie nicht im Führer aufgeführt waren. Vielleicht Mutanten. Ah, aber da, wo eine breite Spalte eine tiefere Humusschicht und ein kleines Rinnsal angesammelt hatte, war ein Klumpen von Kobresia. Diese und die anderen Riedgräser wuchsen, wo es feucht war; und extrem absorbierender Rasen veränderte den Boden chemisch im langsamen Übergang vom Felfield zur alpinen Wiese. Jetzt, da er sie gesichtet hatte, konnte er kleine Wasserläufe erkennen, die durch Populationen von Riedgräsern markiert waren. Sax kniete sich auf ein Polster, schaltete seine Lupe aus und schaute sich um. Und so niedrig, wie er war, konnte er plötzlich eine ganze Reihe kleiner Fellfields sehen, verteilt auf dem Abhang der Moräne wie Flecke eines Perserteppichs, zerzaust durch das vorbeiziehende Eis.
Zurück in der Station verbrachte Sax eine Menge Zeit mit Zurückgezogenheit in den Labors. Er betrachtete Pflanzenproben durch Mikroskope, ließ mannigfache Tests laufen und sprach mit Berkina, Claire und Jessica über die Ergebnisse.
»Sind das meistens Polyploide?« fragte Sax.
»Ja«, erklärte Berkina.
Polyploide waren in großen Höhen auf der Erde recht häufig, darum war es nicht überraschend. Es war ein altes Phänomen — Verdopplung oder Verdreifachung oder sogar Vervierfachung der ursprünglichen Chromosomenanzahl in einer Pflanze. Diploiden Pflanzen mit zehn Chromosomen folgten polyploide mit zwanzig, dreißig oder sogar vierzig Chromosomen. Hybridzüchter hatten dieses Phänomen seit Jahrzehnten benutzt, um phantastische Gartenpflanzen zu schaffen, weil polyploide gewöhnlich größer waren — größere Blätter, Blüten, Früchte, Zellengrößen. Außerdem hatten sie oft einen größeren Spielraum als ihre Eltern. Diese Anpassungsfähigkeit machte sie besser zur Besiedlung neuer Gebiete, wie der Räume unter einem Gletscher. In der Arktis der Erde gab es Inseln, wo achtzig der Pflanzen polyploid waren. Sax nahm an, daß es eine Strategie war, die destruktiven Effekte übermäßiger Mutationsraten zu vermeiden. Das würde erklären, warum es vor allem in Gebieten mit starkem Ultraviolett vorkam. Intensive UV-Strahlung würde wohl eine Anzahl von Genen zerbrechen, aber wenn diese in den anderen Chromosomensätzen repliziert würden, dürfte es keinen genotypischen Schaden geben und kein Hindernis für Vermehrung.