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Niemand konnte das sagen.

Er fing wieder an, über die Disziplin der Naturgeschichte nachzudenken, die ihn auf dem Arena-Gletscher so gefesselt hatte. Sie benutzte wissenschaftliche Methoden zum Studium der Geschichte der natürlichen Welt. Und in vielfacher Hinsicht war diese Geschichte ein ebensolches methodologisches Problem wie die menschliche Geschichte, gleichermaßen nicht wiederholbar und gegen Experimente resistent. Und wo menschliches Bewußtsein nicht hineinspielte, war die Naturgeschichte oft recht erfolgreich, selbst wenn sie hauptsächlich auf Beobachtungen und Hypothesen beruhte, die nur durch weitere Beobachtungen nachgeprüft werden konnten. Es war eine echte Wissenschaft. Sie hatte außer Kontingenz und Unordnung einige gültige allgemeine Prinzipien der Evolution entdeckt — Entwicklung, Anpassung, Komplexifizierung und noch viele weitere spezifischere Prinzipien, die durch die diversen Unterdisziplinen bestätigt wurden.

Was er brauchte, waren ähnliche Prinzipien, die die menschliche Geschichte beeinflussen. Das wenige, was er über Historiographie gelesen hatte, war nicht ermutigend. Es war entweder eine traurige Imitation der wissenschaftlichen Methode oder schlicht und einfach Kunst. Ungefähr alle zehn Jahre revidierte eine neue historische Interpretation alles, was vorausgegangen war. Aber Revisionismus bot offenbar Freuden, die nichts mit der realen Beurteilung des jeweiligen Falles zu tun hatten. Soziobiologie und Bioethik erschienen aussichtsreicher. Aber sie neigten dazu, die Dinge am besten mit evolutionären Zeitskalen zu erklären. Aber Sax wollte etwas für die vergangenen und die nächsten einhundert Jahre. Oder mindestens die letzten und kommenden fünfzig.

Jede Nacht wachte er auf und konnte nicht wieder einschlafen. Er stand auf, setzte sich an den Bildschirm und grübelte über diese Dinge, zu müde, um richtig nachzudenken. Und als diese Nachtwachen anhielten, kam er immer mehr auf die Shows von 2061 zurück. Es gab jede Menge Videozusammenschnitte über die Ereignisse jenes Krieges, und einige davon scheuten sich nicht, ihn beim Namen zu nennen: Der Dritte Weltkrieg! So hieß die längste, etwa sechzig Stunden umfassende Videoserie aus diesem Jahr. Sie war allerdings schlecht redigiert und zeitlich geordnet.

Man brauchte sich diese Serie nur einige Zeit anzuschauen, um zu erkennen, daß der Titel nicht reine Sensationshascherei war. In jenem verhängnisvollen Jahr hatten Kriege auf der ganzen Erde getobt; und die Analytiker, die sich sträubten, vom Dritten Weltkrieg zu sprechen, schienen zu denken, daß er nur nicht lange genug gedauert hätte, um dafür in Betracht zu kommen. Oder daß er nicht der Wettstreit zweier großer globaler Allianzen gewesen, sondern eher konfus und komplex gewesen wäre. Unterschiedliche Quellen würden ihn als Nord gegen Süd erklären oder Jung gegen Alt oder UN gegen Nationen oder Nationen gegen Transnationale oder Transnationale gegen Gefälligkeitsflaggen oder Armeen gegen Polizei oder Polizei gegen Bürger — so daß jeder Konflikt gleichzeitig herrschte. Für eine Dauer von sechs oder acht Monaten war die Welt ins Chaos versunken.

Im Zuge seiner Streifzüge durch Politikwissenschaft war Sax auf die Tabelle eines gewissen Herman Kahn gestoßen, genannt ›Eskalationsleiter‹, welche Konflikte nach ihrer Natur und Schärfe zu kategorisieren suchte. Kahns Leiter hatte vierundvierzig Stufen, die von der ersten, Deutliche Krise, über Kategorien wie Politische und Diplomatische Maßnahmen, Feierliche und Formale Deklarationen und Offene Mobilmachung steiler über Stufen wie Demonstration von Gewalt, Quälende Gewaltakte, Dramatische Militärische Konfrontationen, Großer Konventioneller Krieg in die unerforschten Zonen von Knapper Nuklearer Krieg, Exemplarische Attacken gegen Privatbesitz, Ziviler Vernichtungsangriff bis hin zu Nummer vierundvierzig: Kampf oder Brutaler Krieg. Das war sicher ein interessanter Versuch mit Taxonomie und logischer Sequenz; und Sax begriff, daß die Kategorien aus vielen Kriegen der Vergangenheit abgeleitet waren. Und nach den Definitionen der Tabelle war 2061 direkt auf Stufe vierundvierzig emporgeschossen.

In diesem Mahlstrom war der Mars nicht mehr als ein spektakulärer Kriegsschauplatz unter fünfzig anderen gewesen. Sehr wenige allgemeine Programme über ’61 widmeten ihm mehr als ein paar Minuten; und diese einfachen Zusammenschnitte hatte Sax die ganze Zeit gesehen. Die erfrorenen Wächter in Korolyov, die zerbrochenen Kuppeln, der Sturz des Aufzugs und dann der Fall von Phobos. Versuche zur Analyse der Lage auf dem Mars waren bestenfalls seicht. Der Mars hatte eine exotische Seitenschau geboten mit einigen guten Videos, aber sonst nichts, was ihn von dem allgemeinen Morast unterschiede. Nein. In einer schlaflosen Nacht wurde ihm klar: Wenn er 2061 verstehen wollte, mußte er es sich selber zusammenstückeln aus den Primärquellen der Videobänder von allen wackligen Schnappschüssen wütender Massen, die Städte in Brand setzten, und den gelegentlichen Pressekonferenzen mit verzweifelten frustrierten Anführern.

Selbst das in chronologische Reihenfolge zu bringen war kein einfaches Unterfangen. Und es wurde auch sein Hauptinteresse für ein paar Wochen (in seinem Echus-Stil), da die zeitliche Einordnung von Ereignissen der erste Schritt war, um das zusammenzufügen, was geschehen war. Erst danach konnte man sich Gedanken über das Warum machen.

Im Laufe der Wochen begann er einen Sinn dafür zu entwickeln. Sicher war die allgemeine Meinung korrekt. Das Aufkommen der Transnationalen in den 2040er Jahren hatte die Bühne vorbereitet und war die tiefste Ursache des Krieges. In jener Dekade, als Sax seine ganze Aufmerksamkeit auf das Terraformen des Mars konzentriert hatte, war eine neue Ordnung auf der Erde entstanden, als die Tausende multinationaler Korporationen in die Reihen kolossaler Transnationaler aufzugehen begannen. Wie bei der Entstehung eines Planeten, dachte er eines Nachts, wenn aus Planetesimalen Planeten werden.

Es war allerdings keine völlig neue Ordnung. Die Multinationalen waren zumeist in den reichen Industrienationen aufgekommen, und so waren die Transnationalen in gewisser Hinsicht Ausdruck dieser Nationen, eine Ausdehnung von deren Macht in den Rest der Welt auf eine Weise, die Sax ein wenig an das wenige erinnerte, was er von den kolonialen und imperialen Systemen wußte, die ihnen vorangegangen waren. Frank hatte so etwas gesagt. Der Kolonialismus sei nie ausgestorben, pflegte er zu erklären, er habe nur die Namen geändert und lokale Polizisten angeheuert. Wir sind alle Kolonien der Transnationalen.

Das war Franks Zynismus, wie Sax feststellte (mit dem Wunsch, diesen harten und bitteren Geist vor sich zu haben, um ihn zu unterweisen), denn nicht alle Kolonien waren gleich. Aber eins stimmte: Die Transnationalen waren so mächtig, daß sie nationale Regierungen zu wenig mehr als zahnlosen Lakaien gemacht hatten. Und keine Transnationale hatte gegenüber einer bestimmten Regierung oder der UN eine besondere Loyalität gezeigt. Aber sie waren Kinder des Westens — Kinder, die sich nicht mehr um ihre Eltern kümmerten, sie aber dennoch unterstützten. Denn die Archivdaten zeigten, daß die Industrienationen unter den Transnationalen aufgeblüht waren, während die Entwicklungsnationen keinen Rückhalt gehabt hatten, als gegeneinander um den Status der Gefälligkeitsflagge zu kämpfen. Und als daher 2060 die Transnationalen von verzweifelten armen Ländern unter Beschüß gerieten, war es die Gruppe der Sieben und deren militärische Macht gewesen, die ihnen zur Verteidigung gekommen war.