Sax schüttelte ehrlich überrascht den Kopf. »Daran erinnere ich mich nicht.« Und so war es auch. Das Jahr des Trainings und der Auswahl in den trockenen Tälern von Antarctica war anstrengend gewesen, für ihn aber jetzt nur noch eine undeutliche Angelegenheit; und dieser Vorfall wollte auf keinen Fall wiederkommen. Es war schwer zu glauben, daß das geschehen war. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie die arme Tatiana Durova ausgesehen hatte.
In seine Gedanken versunken und in konzentrierter Suche nach seinen Erinnerungen aus jenem Jahr entging ihm etwas von dem, was Phyllis sagte. Aber dann bekam er mit: »… immer wieder mit meinen alten Kopien aus meinem PC verglichen — und da warst du.«
»Die Speicher deines Computers verschlechtern sich vielleicht«, sagte er geistesabwesend. »Man stellt fest, daß die Stromkreise durch kosmische Strahlung geschädigt werden, wenn man sie nicht von Zeit zu Zeit wieder auffrischt.«
Sie ignorierte diese schwache Bemerkung. »Worauf es ankommt, ist, daß Leute, die derartige Akten der Übergangsbehörde verändern können, beobachtet werden müssen. Ich fürchte, daß ich das nicht durchgehen lassen kann. Selbst wenn ich es wollte.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich bin mir nicht sicher. Das hängt davon ab, was du tust. Du könntest mir einfach sagen, wo du dich versteckst und mit wem und was vor sich geht. Du bist schließlich vor einem Jahr bei Biotique aufgekreuzt. Wo bist du vorher gewesen?«
»Auf der Erde.«
Ihr Lächeln war verzerrt. »Wenn das dein Kurs ist, werde ich gezwungen sein, einige meiner Kollegen um Hilfe zu bitten. In Kasei Vallis gibt es Sicherheitsbeamte, die in der Lage sein werden, deinem Gedächtnis etwas aufzuhelfen.«
»Na, na!«
»Ich meine das nicht metaphorisch. Sie werden die Information nicht aus dir herausprügeln oder etwas dergleichen tun. Es ist mehr eine Sache des Herausziehens. Sie legen dich darunter, stimulieren den Hippocampus und die Mandel und stellen Fragen. Die Menschen antworten einfach.«
Sax dachte darüber nach. Der Mechanismus des Gedächtnisses war immer noch wenig erforscht, aber ohne Zweifel konnte etwas Grobes auf die Gebiete angewendet werden, von denen man wußte, daß sie damit zu tun hatten. Schnelle Mikrowellen, punktgenauer Ultraschall — wer wußte was? Es wäre sicherlich gefährlich. Indessen …
»Nun?« fragte Phyllis.
Er starrte in ihr ärgerliches und triumphierendes Lächeln. Ein höhnisches Grinsen. Ungeordnete Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Desmond, Hiroko, die Kinder in Zygote, die riefen: Warum, Sax, warum? Er mußte sein Gesicht ruhig halten, um seinen Widerwillen gegen sie zu verbergen, der ihn plötzlich wie eine Welle durchflutete. Vielleicht war diese Art von Abneigung das, was die Menschen Haß nannten.
Nach einiger Zeit räusperte er sich. »Ich denke, ich sollte es lieber dir erzählen.«
Sie nickte energisch, als ob sie diese Entscheidung selbst getroffen hätte. Sie schaute sich um. Das ganze Restaurant war jetzt leer. Die Kellner saßen an einem Tisch und tranken Grappa. »Los!« sagte sie. »Gehen wir in mein Büro.«
Sax nickte und stand steif auf. Sein rechtes Bein war eingeschlafen. Er hinkte hinter ihr her. Sie sagten den Kellnern, die sich jetzt rührten, gute Nacht und gingen.
Sie stiegen in den Aufzug, und Phyllis drückte den Knopf für die U-Bahn-Etage. Die Tür ging zu, und sie sanken hinab. Wieder in einem Aufzug. Sax holte tief Luft und warf dann den Kopf nach unten, als ob er etwas Ungewöhnliches auf dem Kontrollpaneel ansehen wollte. Phyllis folgte seinen Blick, und mit einer ruckartigen Bewegung schlug er sie auf die Seite des Kinnbackens. Sie prallte gegen die Seite des Aufzugs und brach benommen und japsend zusammen. Die zwei größten Knöchel seiner rechten Hand schmerzten Sax furchtbar. Er drückte den Knopf für die zweite Etage über der U-Bahn, die einen langen Korridor nach Hunt Mesa hatte mit Läden zu beiden Seiten, die um diese Stunde geschlossen sein würden. Er packte Phyllis bei den Achselhöhlen und zog sie hoch. Sie war größer als er, schlaff und schwer; und als die Tür des Lifts aufging, bereitete er sich darauf vor, um Hilfe zu rufen. Aber draußen stand niemand, und er schlang sich einen ihrer Arme um den Hals und zerrte sie hinüber zu einem der kleinen Wagen, die dort zur Bequemlichkeit der Gäste standen, die die Mesa schnell oder mit einer Last passieren wollten. Er ließ Phyllis auf den Rücksitz fallen. Sie stöhnte. Es klang, als ob sie zu sich käme. Er setzte sich vor ihr auf den Fahrerplatz und trat das Pedal bis zum Boden durch. Das kleine Fahrzeug brummte den Korridor entlang. Sax fand das Atmen mühsam und schwitzte.
Er kam an zwei Toiletten vorbei und hielt an. Phyllis rollte hilflos vom Sitz und auf den Boden. Sie stöhnte noch lauter. Bald würde sie das Bewußtsein wiedererlangen, falls das nicht schon der Fall war. Sax stieg aus und lief hinüber, um zu sehen, ob die Herrentoilette frei war. Das war der Fall. Also rannte er wieder zum Wagen, zog Phyllis an den Schultern hoch und legte sie sich auf den Rücken. Er stolperte unter ihrem Gewicht, bis er die Tür der Toilette erreichte. Dann warf er sie hin. Ihr Kopf krachte auf den Betonfußboden, und ihr Stöhnen hörte auf. Sax öffnete die Tür und zog sie hindurch. Dann schloß und verriegelte er sie.
Er setzte sich neben ihr auf den Fußboden des Waschraums und rang nach Luft. Sie atmete noch, und ihr Puls war schwach, aber gleichmäßig. Sie schien in Ordnung zu sein, aber noch stärker benommen, als nachdem er sie geschlagen hatte. Ihre Haut war blaß und feucht, und ihr Mund stand offen. Sie tat ihm leid, bis er daran dachte, daß sie gedroht hatte, ihn den Sicherheitstechnikern zu übergeben, um ihm seine Geheimnisse zu entreißen. Deren Methoden waren fortschrittlich, aber eine Tortur war es trotzdem. Und falls sie Erfolg hätten, würden sie über die Flüchtlinge im Süden und alle übrigen Bescheid wissen. Sobald sie eine allgemeine Vorstellung von dem hatten, was er wußte, wäre es nicht möglich, ihren Kombinationen von Drogen und Verhaltenssteuerung zu widerstehen.
Und selbst jetzt wußte Phyllis schon zu viel. Die Tatsache, daß er eine so gute falsche Identität hatte, ließ auf eine ganze Infrastruktur schließen, die bis dahin verborgen gewesen war. Wenn sie einmal von deren Existenz wußten, könnten sie sie wahrscheinlich aufspüren. Hiroko, Desmond, Spencer, die in Kasei Vallis tief im System steckten, alle exponiert… Nirgal und Jackie, Peter, Ann… sie alle. Weil er nicht geschickt genug gewesen war, einem stupiden schrecklichen Weib wie Phyllis aus dem Wege zu gehen.
Er schaute sich um. Der Raum hatte die Größe von zwei Toilettenkabinen — eine Kabine mit der Toilette und eine andere mit einem Ausguß, einem Spiegel und der üblichen Wand mit Automaten für Sterilitätspillen und Erfrischungsgas. Er betrachtete diese, atmete tief durch und überdachte die Lage. Als ihm Pläne in den Kopf kamen, flüsterte er seinem Armbandcomputer Anweisungen zu. Desmond hatte ihm einige sehr verheerende Virusprogramme gegeben. Er stöpselte sein Armband in das von Phyllis und wartete, daß die Übertragung stattfand. Mit einigem Glück würde er ihr ganzes System zerstören. Persönliche Sicherheitsmaßnahmen waren nichts gegenüber Desmonds militärisch fundierten Viren. Das behauptete jedenfalls Desmond selbst.
Aber da war immer noch Phyllis. Die Automaten für Erfrischungsgase an der Wand enthielten größtenteils Stickoxydul, jeder etwa zwei oder drei Kubikmeter davon. Der Raum hatte, wie er schätzte, ungefähr fünfunddreißig bis vierzig Kubikmeter. Das Ventilationsgitter befand sich nahe der Decke und konnte mit einem Streifen des neben der Spüle auf einer Rolle sitzenden Handtuchs verstopft werden.