»Natürlich. Memoire involuntaire. Aber ich erinnere mich auch, daß mir genau dasselbe passiert ist, als wir in Underhill lebten. Es liegt also nicht einfach am Altwerden.«
»Nein, es ist das Leben, was wir nicht vergessen können. Dennoch kann ich kaum Kasei anschauen … «
»Ich weiß. Diese Kinder sind seltsam. Hiroko ist seltsam.«
»Das ist sie. Aber warst du damals glücklich? Nachdem du mit ihr abgehauen bist?«
»Ja.« Michel dachte daran zurück und bemühte sich sehr, sich zu erinnern. Erinnerung war sicher das schwache Glied in der Kette… »Ja, ich war es sicher. Es kam darauf an, Dinge zuzugeben, die ich in Underhill zu unterdrücken gesucht hatte. Daß wir Tiere sind. Daß wir sexuelle Kreaturen sind.« Er knetete ihre Schultern fester denn je, und sie ließ sie unter seinen Händen rollen.
»Ich brauche mich nicht daran zu erinnern«, sagte sie mit kurzem Lachen. »Und hat Hiroko dir das zurückgegeben?«
»Ja, aber nicht bloß Hiroko. Evgenia, Rya — wirklich sie alle. Nicht direkt… Nun ja, manchmal auch direkt. Aber nur insoweit, daß wir zugaben, Körper zu haben, Körper zu sein. Wir arbeiteten zusammen, sahen und berührten einander. Ich brauchte das. Ich hatte ernstlich Schwierigkeiten. Und sie schafften es, das auch mit dem Mars zu verbinden. Du schienst nie mit so etwas Probleme gehabt zu haben, ich aber hatte sie wirklich. Ich war krank, Hiroko hat mich gerettet. Für sie war es sinnvoll, unser Heim und unsere Nahrung aus dem Mars zu gewinnen. Eine Art von Liebe für ihn oder Befruchtung oder Geburtshilfe — auf jeden Fall ein sinnlicher Akt. Dies war’s, was mich gerettet hat.«
»Das und ihre Körper. Die von Hiroko, Evgenia und Rya.« Sie sah ihn über die Schulter mit einem tückischen Grinsen an, und er lachte. »Ich wette, daß du dich sehr gut erinnerst.«
»Gut genug.«
Es war Mittag, aber im Süden auf dem langen Hals von Echus Chasma wurde der Himmel dunkel. Michel sagte: »Vielleicht kommt es endlich.«
Wolken standen über der Großen Böschung, eine hochragende Masse von Cumulunimbus-Wolken, deren schwarze Unterseiten von Blitzen flimmerten und die drei Gipfel der Klippe streiften. Die Luft im Chasma war diesig, und die Kuppeln von Kasei Vallis zeichneten sich scharf unter diesem Dunst ab. Kleine Blasen klarer Luft standen über den Gebäuden und merkwürdig ruhigen Bäumen wie gläserne Briefbeschwerer, die man auf die windige Wüste geworfen hatte. Sie würden warten müssen, selbst wenn die Winde kämen. Maya stand auf und marschierte wieder hin und her. Sie strahlte Energie aus, bückte sich, aus den niedrigen Fenstern zu blicken, und murmelte etwas auf russisch. Böen kamen auf und trafen den Wagen. Sie pfiffen und strichen über den gebrochenen Fels am Fuß der kleinen Mesa hinter ihnen.
Mayas Ungeduld machte Michel nervös. Es war wirklich so, als ob man mit einem wilden Tier eingesperrt wäre. Er ließ sich in den Fahrersitz fallen und schaute zu den Wolken auf, die über die Böschung rollten. Die geringe Schwere des Mars erlaubte, daß Gewitterköpfe sich gewaltig hoch in den Himmel auftürmten. Und diese immensen weißen Massen mit amboßartigen Köpfen machten zusammen mit der gewaltigen Klippenfront darunter, daß die Welt surrealistisch groß aussah. Sie waren Ameisen in einer solchen Landschaft. Sie waren selbst die kleinen roten Leute.
Sicher würden sie in dieser Nacht den Rettungsversuch unternehmen. Sie hatten so schon zu lange warten müssen. Bei einer ihrer rastlosen Runden blieb Maya wieder hinter ihm stehen, ergriff die Muskeln zwischen seinen Schultern und seinem Nacken und drückte sie. Das verursachte Schocks an seinem Rücken und Flanken und dann an der Innenseite seiner Oberschenkel. Er krümmte sich in ihrer Umklammerung und wandte sich in dem Drehsessel so um, daß er ihr seine Arme um die Taille schlingen und sein Ohr gegen ihr Brustbein drücken konnte. Sie bearbeitete weiter seine Schultern, und er fühlte, wie Puls und Atem sich beschleunigten. Sie beugte sich herüber und küßte ihn oben auf den Kopf. Sie kamen sich immer näher, bis sie eng aneinandergedrängt waren. Maya knetete die ganze Zeit seine Schultern. Lange Zeit verharrten sie so.
Dann zogen sie sich in den Wohnraum des Wagens zurück und liebten sich. Voller Erwartung, wie sie waren, stürzten sie sich mit voller Intensität hinein. Ohne Zweifel hatte das Gespräch über Underhill dies ausgelöst. Michel erinnerte sich lebhaft an sein unerlaubtes Begehren für Maya in jenen Jahren. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Silberhaar und versuchte, mit ihr zu verschmelzen und tief in sie einzutauchen. Als ein katzenhaftes Tier, das sie war, stieß sie mit ebenso wilder Angriffslust zurück, um ihn tief in sich aufzunehmen. Diese Anstrengung machte ihn völlig fertig. Es war gut, daß sie unter sich waren, denn ihr überraschtes Hingerissensein äußerte sich als eine Folge von Stöhnen und Ächzen und in einem geradezu elektrischen Sinnesrausch.
Danach lag er auf ihr, noch in ihr drin; und sie hielt sein Gesicht und schaute ihn an. »In Underhill habe ich dich geliebt«, sagte er.
»In Underhill habe auch ich dich geliebt«, sagte sie träge. »Wirklich. Ich habe nie etwas dazu getan, weil ich mich töricht gefühlt hätte gegenüber John und Frank. Aber ich habe dich geliebt. Darum war ich so ärgerlich auf dich, als du verschwandest. Du warst mein einziger Freund. Du warst der einzige, mit dem ich ehrlich sprechen konnte. Du warst der einzige, der mir wirklich zugehört hat.«
Michel erinnerte sich und schüttelte den Kopf. »Ich habe mich damals nicht besonders gut aufgeführt.«
»Vielleicht nicht. Aber du hast dich um mich gekümmert, nicht wahr? Es war nicht bloß deine Aufgabe.«
»O nein, ich habe dich geliebt, ja. Maya, es war nicht bloß eine Aufgabe. Nicht für irgend wen oder irgend etwas.«
»Schmeichler!« sagte sie und stieß ihn an. »Du hast das immer getan. Du versuchtest, all die schrecklichen Dinge, die ich tat, bestmöglich zu verstehen.« Sie lachte kurz.
»Ja. Aber die waren gar nicht so schrecklich.«
»Sie waren es.« Sie zog den Mund zusammen. »Aber dann bist du einfach verschwunden!« Sie schlug ihn leicht ins Gesicht. »Du hast mich verlassen!«
»Das ohnehin. Ich mußte es.«
Ihr Mund zog sich bitter zusammen, und sie schaute an ihm vorbei in den tiefen Abgrund all ihrer Jahre. Sie glitt die Sinuskurve ihrer Stimmungen hinunter in etwas noch Finstereres und Tieferes. Michel beobachtete das mit angenehmer Resignation. Er war lange Zeit glücklich gewesen und konnte an ihrem Mienenspiel erkennen, daß er, wenn er mit ihr zusammenbliebe, sein Glück — oder mindestens dies spezielle Glück — für sie eintauschen würde. Sein ›Optimismus durch Politik‹ würde anstrengender werden, und er würde jetzt eine andere Antinomie in seinem Leben auszugleichen haben, die so auseinanderstrebend war wie die Provence und der Mars. Das war einfach Maya und Maya.
Sie lagen nebeneinander, jeder in seine Gedanken vertieft, blickten nach draußen und fühlten, wie der Rover über seinen Stoßdämpfer rumpelte. Der Wind nahm zu, und der Staub strömte jetzt von Echus Chasma und dann Kasei Vallis herunter in einer gespenstischen Nachahmung der großen Flut, die einst den Kanal ausgetieft hatte. Michel richtete sich auf, um die Schirme zu kontrollieren. »Über zweihundert Kilometer in der Stunde.« Maya seufzte tief. Die Winde waren in alten Zeiten schneller gewesen, aber bei einer so viel dickeren Atmosphäre täuschten diese geringen Geschwindigkeiten. Windstöße waren jetzt kräftiger als die alten inhaltslosen Strömungen.
Sicher würden sie heute abend hineingehen. Es kam nur darauf an, das Signal von Cojote zu erhalten. Also legten sie sich zusammen hin und warteten, angespannt und entspannt zugleich. Sie massierten einander gründlich, um die Zeit zu vertreiben und die Spannung zu mildern. Michel staunte immer noch über die katzenartige Anmut von Mayas langem, muskulösem Körper, der nach Jahren alt war, aber in fast jeder Hinsicht derselbe wie immer. So schön wie je.