Charles sah ihm nach und sagte mit einem Anflug matter Verzweiflung:»Ich verstehe sie schlicht und einfach nicht. Aber du, du brauchst ganze zehn Minuten, um herauszufinden… was ich nie und nimmer bemerkt hätte. «Er blickte mich düster an.»Es war also recht sinnlos zu versuchen, ihr Mut zu machen, wie ich das getan habe?«
«Ach, Charles, was für ein elender Schlamassel. Es hat nicht geschadet, sondern ihr nur geholfen, ihn zu entschuldigen. diesen Ashe. und den Moment aufzuschieben, in dem sie sich selbst eingestehen muß, daß sie einen verhängnisvollen. einen beschämenden. Fehler begangen hat.«
Der Kummer hatte die Falten in seinem Gesicht tiefer gemacht. Er sagte ernst:»Es ist schlimmer. Schlimmer, als ich gedacht habe.«
«Trauriger«, entgegnete ich,»nicht schlimmer.«
«Glaubst du, daß du ihn finden kannst?«fragte er.»Wo, um alles in der Welt, willst du bloß anfangen?«
Kapitel 4
Ich fing am folgenden Morgen an, ohne Jenny noch einmal gesehen zu haben. Sie war am Abend in Gesellschaft ihres Freundes Toby mit hoher Geschwindigkeit nach Oxford davongebraust und hatte Charles und mich — zu unser beider Erleichterung — einem einsamen Nachtmahl überlassen. Sie waren dann erst sehr spät zurückgekommen und bis zum Augenblick meiner Abfahrt noch nicht zum Frühstück erschienen.
Der Beschreibung von Charles folgend, fuhr ich zu Jennys Wohnung in Oxford und klingelte dort. Das Schloß, dachte ich nach eingehenderer Betrachtung, würde mir wohl keine Probleme bereiten, falls niemand zu Hause war, aber nach dem zweiten Klingeln öffnete sich die mit einer Kette versehene Tür einen kleinen Spalt.
Ich erblickte ein Auge, ein bißchen zerzaustes Blondhaar, einen nackten Fuß und einen Streifen dunkelblauen Morgenrock.
«Louise McInnes?«fragte ich.
«Ja, Sie wünschen?«
«Dürfte ich Sie wohl mal kurz sprechen? Ich bin Jennys. äh. Ex-Mann. Ihr Vater hat mich gebeten, ihr zu helfen.«
«Sie sind Sid?«sagte sie und klang überrascht.»Sid Hal-ley?«
«Ja.«
«Einen Augenblick. «Die Tür schloß sich und blieb ziemlich lange zu. Endlich tat sie sich wieder auf, diesmal weit, und ließ mich das ganze Mädchen sehen. Es trug jetzt Jeans, ein kariertes Hemd, einen viel zu weiten, blauen Pullover und Slipper. Die Haare waren gekämmt, die Lippen geschminkt — ein unaufdringliches Rosa.
«Kommen Sie herein.«
Ich trat ein und schloß die Tür hinter mir. Jennys Wohnung war, wie ich nicht anders erwartet hatte, keine Bruchbude. Sie befand sich in einem großen viktorianischen Haus in einer vornehmen Seitenstraße, das über eine eigene, halbkreisförmige Zufahrt vorn und Parkplätze auf der Rückseite verfügte. Jennys weitläufige Behausung, die man durch ein eigenes, später angebautes Treppenhaus erreichte, nahm den ganzen ersten Stock ein. Charles hatte mir anvertraut, daß sie sie mit einem Teil der ihr bei der Scheidung zuerkannten Abfindung gekauft hatte, und es freute mich zu sehen, daß mein Geld im großen und ganzen gut angelegt worden war.
Lampen anknipsend, führte mich die junge Frau in ein großes Wohnzimmer mit halbrundem Erker, in dem die Vorhänge noch zugezogen waren und Tische, Stühle und Fußboden von den Beschäftigungen des Vortages zeugten. Zeitungen, ein Mantel, abgestreifte Schuhe, Kaffeetassen, ein leerer Joghurtbecher mit Löffel in einer Obstschale, ein paar dahinsiechende Narzissen, eine Schreibmaschine mit abgenommenem Deckel, ein paar zusammengeknüllte Blätter, die den Papierkorb verfehlt hatten — das alles stand und lag und hing wahllos herum.
Louise McInnes zog die Vorhänge auf und ließ den grauen Morgen das elektrische Licht verdünnen.
«Ich war noch nicht auf«, sagte sie unnötigerweise.
«Tut mir leid.«
Das Durcheinander war ihr Werk. Jenny war stets sehr ordentlich gewesen, räumte immer auf, bevor sie zu Bett ging. Das Zimmer insgesamt aber war ihres, wie ein paar Stücke aus Aynsford und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wohnzimmer in unserem früheren, gemeinsamen Haus zeigten. Die Liebe mochte sich wandeln, aber der Geschmack blieb unverändert. Ich fühlte mich hier als Fremder — und gleichzeitig zu Hause.
«Möchten Sie einen Kaffee?«fragte sie.
«Nur wenn.«
«Aber ja doch. Ich mache mir auf jeden Fall einen.«
«Kann ich behilflich sein?«
«Wenn Sie möchten.«
Sie führte mich über den Flur in eine kahl wirkende Küche. Ihr Verhalten war nicht gerade abweisend, aber doch sehr kühl. Eigentlich nicht verwunderlich. Jenny hielt mit ihren Ansichten über mich wohl kaum hinter dem Berg, und was sie diesbezüglich von sich gab, enthielt aller Voraussicht nach nicht viel Gutes.
«Auch einen Toast?«Sie stellte ein Paket Weißbrot in Scheiben und Pulverkaffee auf den Tisch.
«Gern.«
«Dann tun Sie zwei Scheiben in den Toaster. Da drüben.«
Ich tat wie geheißen, während sie Wasser in einen elektrischen Kessel füllte und dann aus einem Schrank Butter und Orangenmarmelade hervorkramte. Die angebrauchte Butter steckte noch im aufgerissenen Einwickelpapier, die Mitte war ausgehöhlt und das Ganze eine ziemlich schmierige Angelegenheit — genau wie das Butterstück in meiner Wohnung. Jenny hatte sie immer ganz automatisch in eine Butterdose getan. Ich fragte mich, ob sie das auch tat, wenn sie allein war.
«Milch und Zucker?«
«Keinen Zucker.«
Als die Weißbrotscheiben im Toaster hochschnellten, nahm sie sie heraus, bestrich sie mit Butter und Marmelade und legte sie auf zwei Teller. Dann übergoß sie das Kaffeepulver in den Bechern mit kochendem Wasser und gab Milch direkt aus der Flasche hinein.
«Nehmen Sie die Becher«, sagte sie,»ich nehme den Toast.«
Sie griff nach den Tellern und sah aus dem Augenwinkel, wie sich meine linke Hand um den einen Becher schloß.»Vorsicht«, sagte sie schnell,»das ist heiß.«
Ich umfaßte den Kaffeebecher behutsam mit den Fingern, die nichts spürten.
Sie riß die Augen auf.
«Einer der Vorteile«, sagte ich und hob den anderen Becher weitaus vorsichtiger am Henkel hoch.
Sie sah mich an, sagte aber nichts, sondern drehte sich um und ging ins Wohnzimmer zurück.
«Hatte ich doch glatt vergessen«, sagte sie, als ich die Becher auf dem Platz abstellte, den sie schnell auf dem niedrigen Couchtisch freigeräumt hatte.
«Dritte Zähne sind weitaus häufiger«, sagte ich höflich. Sie hätte beinahe gelacht, und obwohl am Ende ein unentschiedenes Stirnrunzeln daraus wurde, gab die ganz kurz spürbar gewordene Wärme doch einen Blick auf den wahren Menschen frei, der sich hinter der etwas schroffen Fassade verbarg. Sie biß in ihren Toast, sah nachdenklich vor sich hin und sagte dann:»Was wollen Sie denn tun, um Jenny zu helfen?«
«Versuchen, Nicholas Ashe zu finden.«
«Oh. «Wieder flackerte ein spontanes Lächeln auf, das gleich darauf von einem Nachgedanken vertrieben wurde.
«Mochten Sie ihn?«fragte ich. Sie nickte wehmütig.»Leider ja. Er ist… war… so ungeheuer amüsant. Ein prima Kumpel. Ich kann noch gar nicht glauben, daß er einfach auf und davon ist und Jenny in diesem ganzen Schlamassel sitzengelassen hat. Ich meine… na ja, er hat doch hier gewohnt, in dieser Wohnung… und wir haben soviel zu lachen gehabt… Was er da gemacht hat… es ist nicht zu fassen.«
«Würde es Ihnen was ausmachen, mir die ganze Geschichte mal von Anfang an zu erzählen?«
«Aber hat Jenny das nicht…«
«Nein.«
«Ich nehme an«, sagte sie langsam,»daß es ihr schwerfällt, Ihnen gegenüber zuzugeben, wie er uns hereingelegt hat.«
«Wie sehr hat sie ihn geliebt?«fragte ich.
«Geliebt? Was ist Liebe? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie war in ihn verliebt, ja. «Sie leckte sich die Finger ab.»Sie war wie beschwipst, ausgelassen und heiter, im siebten Himmel.«