Ihr Geruch und ihr Anblick waren für mich das, was der Seewind für den Matrosen ist. Ich füllte meine Lungen und Augen und verspürte große Zufriedenheit.
Jedes Lot wurde bei der Morgenarbeit von seinem aufmerksamen Trainer begleitet und überwacht. Einige von ihnen kamen mit dem Auto, ein paar zu Pferd und einige auch zu Fuß. Ich sammelte eine ganze Menge Gutenmorgengrüße ein, und nicht wenige der lächelnden Gesichter schienen aufrichtig erfreut, mich zu sehen. Ein paar von den Trainern, die es nicht ganz so eilig hatten, blieben sogar kurz stehen, um ein paar Worte mit mir zu wechseln.
«Sid!«rief einer aus, für den ich Flachrennen geritten hatte, bevor sich mein Gewicht meiner Größe anpaßte.»Wir kriegen dich in letzter Zeit ja wirklich nur noch selten hier oben zu sehen, Sid.«
«Mein Schaden«, sagte ich lächelnd.
«Warum kommst du nicht her und reitest für mich raus? Wenn du das nächste Mal in der Gegend bist, dann ruf mich doch an, und wir vereinbaren was.«
«Ist das dein Ernst?«
«Selbstverständlich. Das heißt, wenn du willst.«
«Wahnsinnig gern.«
«Großartig! Also, nicht vergessen. «Er schlenderte winkend davon und schnauzte einen Burschen an, der sich seinen Unmut dadurch zugezogen hatte, daß er im Sattel hing wie eine aus der Fa9on geratene Qualle.»Wie, zum Teufel, soll dein Pferd bei der Sache bleiben, wenn du es nicht bist?«Der Junge saß ganze zwanzig Sekunden lang einigermaßen ordentlich im Sattel. Er würde wohl noch weit kommen — vom Bahnhof aus.
Am Mittwochmorgen wurde gemeinhin das volle Trainingsprogramm geritten, weshalb sich auch die übliche
Schar interessierter Zuschauer eingefunden hatte — Besitzer, Presseleute und etliche für Buchmacher tätige» Spione«. Ferngläser sprossen auf Gesichtern wie Zusatzaugen, Notizen wurden in persönlicher Kurzschrift aufs Papier geworfen. Mochte der Morgen auch kühl sein, die Saison lief langsam warm. Allerorten geschäftiges Treiben und der Eindruck von Zielstrebigkeit. Eine Industrie ließ ihre Muskeln spielen. Der bewährte Kreislauf von Geld, Gewinn und Steuereinnahmen unter dem weiten Himmel von Suffolk. Auch ich war noch Teil davon, wenn auch nicht mehr in der gleichen Funktion wie früher. Und Jenny hatte völlig recht — in einem Büro würde ich sofort eingehen.
«Morgen, Sid.«
Ich blickte mich um. Es war George Caspar, hoch zu Roß, die Augen auf ein Lot Pferde in der Ferne gerichtet, das aus seinem Stall in der Bury Road kam und nun am Rande der Grasflache dahintrottete.
«Morgen, George.«
«Sind Sie länger hier?«
«Nur ein oder zwei Nächte.«
«Sie hätten uns Bescheid sagen sollen. Bei uns ist immer ein Bett frei. Rufen Sie Rosemary an. «Seine Augen ruhten auf seinen Pferden — die Einladung war eine höfliche Geste und nicht dazu gedacht, angenommen zu werden. Rosemary, dachte ich, wäre in Ohnmacht gefallen, wenn sie das mitbekommen hätte.
«Ist >Tri-Nitro< bei dem Lot dort dabei?«erkundigte ich mich.
«Ja. Sechstes Pferd von vorn. «Er sah zu den interessierten Zuschauern hinüber.»Haben Sie Trevor Deansgate irgendwo gesehen? Er hat mir gesagt, er wollte heute morgen von London raufkommen. Wollte früh losfahren.«
Ich schüttelte den Kopf.»Hab ihn nirgends gesehen.«
«Zwei von dem Lot sind seine. Er wollte ihnen bei der Arbeit zusehen. «Er zuckte mit den Schultern.»Wenn er nicht bald da ist, verpaßt er’s eben.«
Ich mußte im stillen grinsen. Manche Trainer schoben die Trainingsarbeit so lange auf, bis der Besitzer eingetroffen war — nicht so George. Bei ihm standen die Besitzer an, um seiner Gunst und seiner Kommentare teilhaftig zu werden, und Trevor Deansgate war trotz all seiner Macht nur einer von vielen. Ich hob das Fernglas an die Augen und beobachtete, wie das Lot, vierzig Pferde stark, herankam und sich dann im Kreis bewegte, bis die Reihe an ihm war, auf die bergauf führende Bahn zu gehen. Die Pferde des Stalles, der vor George dran war, waren fast durch.
Der Jockey, der >Tri-Nitro< ritt, trug einen roten Schal im Halsausschnitt seiner olivgrünen, wattierten Jacke. Ich nahm das Glas herunter, sah ihm zu, wie er im Kreise ritt, und betrachtete sein Pferd so neugierig wie alle anderen auch. Ein vorzüglich aussehender Brauner, gut gebaut, mit kräftigen Schultern und viel Brustraum — aber andererseits war nichts an ihm, was einen mit der Nase darauf gestoßen hätte, daß man hier den hoch gewetteten Winterfavoriten für die Guineas und das Derby vor sich hatte. Wenn man es nicht gewußt hätte, hätte man’s nicht wissen können, wie es so schön heißt.
«Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein paar Fotos mache, George?«fragte ich.
«Aber ganz und gar nicht, Sid.«
«Danke.«
Ich ging neuerdings nur noch selten ohne Kamera in der Tasche irgendwohin: 16 Millimeter, automatische Belichtungsmessung, ein sündhaft teures Objektiv. Ich zog sie heraus, zeigte sie ihm, und er nickte.»Nur zu.«
Er setzte sein geduldiges Pferd in Bewegung und ritt davon, hinüber zu seinem Lot, um mit der Morgenarbeit zu beginnen. Der Jockey, der ein Pferd vom Stall hier heraus ritt, war nicht unbedingt auch der, der dann die Galopparbeit übernahm, und wie immer kam es zu einer ganzen Reihe von Pferdewechseln, bis endlich die besten Reiter auf den Pferden saßen, auf die es ankam. Der Junge mit dem roten Schal sprang aus dem Sattel von >Tri-Nitro< und hielt den Hengst, bis ein sehr viel älterer Jockey aufgesessen war.
Ich ging näher an das Lot heran und machte drei oder vier Fotos von dem Wunderpferd und ein paar Nahaufnahmen von seinem Reiter.
«Inky Poole?«fragte ich, als er dicht an mir vorbeigeritten kam.
«Ja. Vorsicht, Hintermann. Sie stehen im Weg.«
Ein unübersehbarer Anflug von Bärbeißigkeit. Wenn er mich vorhin nicht mit George hätte sprechen sehen, hätte er sich meine Anwesenheit wahrscheinlich gleich ganz verbeten. Ich fragte mich, ob sein Groll auf die ganze Welt die Ursache oder die Folge des Umstandes war, daß er in seiner Jockey karri ere nicht weiterkam, und empfand im Grunde Mitleid mit ihm.
George fing an, das Lot in kleinere Gruppen aufzuteilen, die dann nacheinander auf die Strecke gehen sollten, und ich zog mich wieder auf meinen Beobachtungsposten am Rande des Geschehens zurück.
Ein Auto kam mit hoher Geschwindigkeit angefahren und hielt mit einem plötzlichen Ruck, was einige der Pferde in Unruhe versetzte und kurz scheuen ließ, während sich die Stimmen der Reiter zu lauten Warnungen und Protesten erhoben.
Trevor Deansgate entstieg seinem Jaguar und knallte, um das Maß voll zu machen, den Wagenschlag zu. Er war im
Straßenanzug, hob sich deutlich von allen anderen ab und sah eher so aus, als sei er auf dem Wege zu einer Vorstandssitzung. Schwarzes, streng zurückgekämmtes Haar, glattrasiertes Kinn, blitzblank geputzte Schuhe. Nicht der Typ von Mann, dessen Freundschaft ich gesucht hätte, schon weil ich es nicht sonderlich schätzte, den Mächtigen zu Füßen zu sitzen und mit nervösem Lachen die Brosamen ihrer Gunst aufzusammeln. Aber er war nun mal, was den Rennsport anbetraf, eine Macht, mit der man rechnen mußte.
Die großen Buchmacher konnten einen sehr positiven Einfluß ausüben und taten das oft auch — eine Haltung, dachte ich zynisch, die sie gezwungenermaßen einnahmen, um ihr Überleben gegen eine Lobby zu sichern, die wußte, daß ein Totomonopol (und ein weniger rauhes Steuerklima) dem Rennsport zurückgäbe, was die Buchmacher herausholten. Trevor Deansgate verkörperte den neuen Typ: urban und ein Mann von Welt, suchte er die Gesellschaft der Großen, wurde der City allmählich ein Begriff und war der Grafen ergebenster Diener.
«Hallo«, rief er, als er mich sah.»Wir haben uns doch in Kempton kennengelernt… Wissen Sie zufällig, wo die Pferde von George sind?«