Выбрать главу

Ich bezahlte meine Rechnung und ließ mich zur Abflughalle fahren. Es gab Flugzeuge in alle Richtungen, mit denen ich hätte fliehen können. Und der Drang zur Flucht war sehr stark. Aber wohin man auch ging, man nahm sich selbst mit. Man konnte sich selbst nicht entkommen. Wohin ich auch ging, am Ende würde ich doch zurückkehren müssen.

Wenn ich in diesem kaputten Zustand zurückkehrte, würde ich die ganze Zeit gleichsam auf zwei Ebenen leben müssen. Ich würde mich so wie immer verhalten müssen, so, wie es alle von mir erwarteten. Würde denken müssen und Auto fahren und mit Leuten reden und weiterleben. Eine Rückkehr bedeutete all das. Und sie bedeutete, daß ich das alles würde tun und mir selbst dabei beweisen müssen, daß ich es konnte, obwohl ich innerlich nicht mehr derselbe war.

Es kam mir der Gedanke, daß der diesmal erlittene Verlust vielleicht schlimmer war als der Verlust einer Hand. Für eine Hand gab es Ersatz, Apparate, mit denen man zugreifen konnte und die durchaus passabel aussahen. Wie aber sollte man zurechtkommen, wenn der innerste Wesenskern zerbröckelt war?

Wenn ich zurückkehrte, würde ich versuchen müssen, damit fertig zu werden.

Wenn ich zu einem solchen Versuch nicht fähig war, warum dann zurückkehren?

Ich brauchte eine sehr lange, einsame Zeit, um mir ein Ticket nach Heathrow zu kaufen.

Ich landete gegen Mittag, rief kurz im» Cavendish «an, bat darum, dem Admiral auszurichten, daß ich unsere Verabredung leider nicht einhalten könne, und fuhr mit dem Taxi zu meiner Wohnung.

Der Hauseingang, die Treppe, der Treppenabsatz — alles sah so wie immer und zugleich völlig verändert aus. Ich war es, der sich verändert hatte. Ich steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn herum und betrat die Wohnung.

Ich erwartete dort niemanden, aber noch bevor ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, hörte ich im Wohnzimmer ein raschelndes Geräusch und dann Chicos Stimme:»Sind Sie das, Admiral?«

Ich antwortete nicht. Eine Sekunde später wurde sein fragend in den Flur gesteckter Kopf sichtbar, dann seine ganze Gestalt.

«Das wird auch langsam Zeit«, sagte er, im großen und ganzen wohl erleichtert, mich zu sehen.

«Ich habe dir doch ein Telegramm geschickt.«

«Sicher, sicher. Hab’s hier, steht auf dem Kaminsims. Kannst Newmarket verlassen und nach Hause fahren. Bin ein paar Tage weg. Rufe dich an. Was ist das denn für ein Telegramm? Aus Heathrow, Freitag früh abgeschickt. Warst du auf Urlaub?«

«Ja.«

Ich ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Hier sah alles ganz anders aus. Überall, auf jeder Ablagefläche, lagen Papiere und Schnellhefter, beschwert von Tassen und Untertassen mit Kaffeerändern.

«Du bist ohne das Ladegerät fort«, sagte Chico.»Das machst du sonst nie, nicht mal, wenn du nur eine Nacht weg bist. Die Ersatzbatterien sind auch alle hier. Du hast die Hand sechs Tage lang nicht bewegen können.«

«Trinken wir einen Kaffee.«

«Du hast auch keine Kleider und keinen Rasierer mitgenommen.«

«Ich habe in einem Hotel gewohnt. Die konnten mir mit einem Rasierer aushelfen. Was soll die ganze Unordnung hier?«

«Die Politurbriefe.«

«Was?«

«Na ja, du weißt doch. Die Möbelpoliturbriefe. Dieses Problem von deiner Frau.«

«Ach so…«

Ich starrte verblüfft auf das Chaos hinab.

«Hör mal«, sagte Chico,»einen Käsetoast? Ich bin am Verhungern.«

«Gute Idee. «Es war unwirklich, alles absolut unwirklich.

Chico verfügte sich in die Küche und fing an, dort herumzuwerkeln. Ich nahm die leere Batterie aus meinem Arm und ersetzte sie durch eine aufgeladene. Die Finger ließen sich wieder öffnen und schließen, ganz wie in alten Zeiten. Ich hatte sie stärker vermißt, als ich mir je hätte träumen lassen.

Chico kam mit dem Käsetoast herein. Er aß seinen, und ich betrachtete meinen. Ich sollte ihn essen, dachte ich, brachte aber nicht die Energie dazu auf. Ich hörte, wie die Wohnungstür mit einem Schlüssel geöffnet wurde, dann die Stimme meines Schwiegervaters im Flur.

«Er ist nicht im >Cavendish< aufgetaucht, hat aber wenigstens eine Nachricht hinterlassen. «Er trat ins Zimmer, genau hinter mir, und ich sah, wie Chico mit dem Kopf in meine Richtung deutete.

«Er ist wieder da«, sagte Chico.»In alter Frische.«

«Hallo, Charles«, sagte ich.

Er warf mir einen langen, nachdenklichen Blick zu. Sehr beherrscht, sehr höflich.»Wir haben uns Sorgen gemacht, weißt du. «Das war ein Vorwurf.

«Tut mir leid.«

«Wo hast du gesteckt?«fragte er. Ich befand, daß ich ihm das nicht sagen konnte. Wenn ich ihm sagte, wo ich gewesen war, dann mußte ich auch erklären, warum — und vor dem Warum schreckte ich zurück. Ich sagte einfach gar nichts.

Chico grinste ihn fröhlich an.»Sid ist böse das Dach auf den Kopf gefallen. «Er sah auf die Uhr.»Wo Sie jetzt da sind, Admiral, könnte ich mich eigentlich auch mal aufmachen und den kleinen Scheißern in der Penne beibringen, wie man seine Oma über die Schulter schmeißt. Ach ja, Sid, bevor ich es vergesse… da stehen ungefähr fünfzig Nachrichten für dich auf dem Block neben dem Telefon. Zwei neue Versicherungsfälle warten auf Erledigung. Und ein Überwachungsjob. Lucas Wainwright verlangt nach dir, er hat viermal angerufen. Und Rosemary Caspar hat in den Hörer gekreischt, daß mir fast das Trommelfell geplatzt wäre. Alles da notiert. Bis dann, ich komm später wieder her.«

Ich wollte ihn bitten, das nicht zu tun, aber da war er schon fort.

«Du hast abgenommen«, sagte Charles.

Das war nicht verwunderlich. Ich sah wieder auf meinen Käsetoast hinab und entschied, daß zur Rückkehr wohl auch Dinge wie die Nahrungsaufnahme gehörten.

«Möchtest du auch einen?«fragte ich.

Er besah sich das erkaltete Viereck.»Danke, nein.«

Ich mochte eigentlich auch nicht und schob den Teller von mir weg. Saß da und starrte ins Leere.

«Was war los?«fragte er.

«Nichts.«

«Letzte Woche bist du voller Schwung ins >Cavendish< gekommen«, sagte er.»Vor Lebenskraft nur so strotzend, mit regelrecht funkelnden Augen. Und wenn man dich jetzt ansieht…«

«Dann laß es doch«, sagte ich.»Sieh mich nicht an. Wie bist du mit den Briefen vorangekommen?«

«Sid.«

«Admiral. «Ich stand unruhig auf, um mich seinem forschenden Blick zu entziehen.»Laß mich zufrieden.«

Er schwieg eine Weile, dann sagte er:»Du hast doch in letzter Zeit an der Warenbörse spekuliert. Hast du dein Geld verloren? Ist es das?«

Ich war überrascht, fast amüsiert.

«Nein«, sagte ich.

Er fuhr fort:»Du bist schon mal so auf Tauchstation gegangen, als du deinen Job verloren hast. Und meine Tochter. Was hast du also diesmal verloren, wenn es nicht Geld ist? Was könnte so schlimm sein… oder noch schlimmer?«

Ich kannte die Antwort. Ich hatte sie in Paris erfahren, unter Qualen von Scham. In meinem Kopf bildete sich das Wort Mut, und zwar so deutlich, daß ich schon fürchtete, es würde ganz von selbst in den seinen überspringen.

Aber nichts deutete darauf hin, daß das geschehen war. Er wartete noch immer auf eine Antwort.

Ich schluckte.»Sechs Tage«, sagte ich ausdruckslos.»Ich habe sechs Tage verloren. Laß uns jetzt die Suche nach Nicholas Ashe fortsetzen.«

Er schüttelte mißbilligend und frustriert den Kopf, fing dann aber doch an, mir zu erklären, was er inzwischen unternommen hatte.

«Dieser dicke Stapel da, das sind die Briefe der Leute, deren Name mit M anfängt. Ich habe sie alphabetisch geordnet und eine Liste getippt. Ich dachte mir, daß uns vielleicht schon ein einziger Buchstabe reicht, um zu Ergebnissen zu kommen… hörst du mir eigentlich zu?«

«Ja.«

«Ich bin mit der Liste, deinem Vorschlag entsprechend, zu Christie’s und Sotheby’s gegangen und habe sie überredet, uns zu helfen. Aber die Rubrik M von ihrer Adressenliste deckt sich nicht mit der von unserer. Ich habe dabei auch festgestellt, daß wir so unter Umständen gar nicht weit kommen, weil heutzutage so viele Briefe per Computer adressiert werden.«