«Ich nehme an, daß eine Dopingkontrolle durchgeführt wurde«, sagte Chico.
Das brachte sie erneut in Rage.»Dopingkontrollen! Natürlich haben sie die durchgeführt, was denken Sie denn! Blut, Urin, Speichel, Dutzende dieser blödsinnigen Tests. Sie haben George auch Proben zur Verfügung gestellt, deshalb sind wir ja hier. Er will sie von einem privaten Labor analysieren lassen… aber die werden nichts feststellen, genau wie vorher… nichts, absolut gar nichts.«
Ich riß den Scheck heraus und reichte ihn ihr. Sie starrte blind darauf hinab.
«Wäre ich bloß nie hergekommen! Mein Gott, hätte ich’s bloß gelassen! Sie sind eben nur ein Jockey, das hätte ich wissen müssen. Ich will nichts mehr mit Ihnen zu tun haben. Ich verbitte mir, bei den Rennen von Ihnen angesprochen zu werden, ist das klar?«
Ich nickte. Es war klar. Sie wandte sich abrupt zum Gehen.
«Und sprechen Sie um Himmels willen auch George nicht an.«
Sie ging allein aus dem Zimmer und der Wohnung, deren Tür sie hinter sich zuschlug.
Chico schnalzte mit der Zunge und zuckte die Achseln.»Man kann eben nicht alle für sich einnehmen«, sagte er.»Du hättest auch nicht mehr tun können als ihr Mann, von einer Privatpolizei und einem halben Dutzend Wachhunde ganz zu schweigen. «Er rechtfertigte mich, und das wußten wir beide.
Ich antwortete nicht.
«Sid?«
«Ich glaube, ich mache nicht weiter«, sagte ich.»Mit dieser Art von Job, meine ich.«
«Du wirst doch wohl nicht beachten, was die da eben gesagt hat!«protestierte er.»Du darfst diesen Job nicht aufgeben. Dazu bist du zu gut. Wenn ich dran denke, was für fürchterliche Geschichten du schon in Ordnung gebracht hast. Bloß weil mal eine daneben gegangen ist…«
Ich starrte leer auf eine Menge unsichtbarer Dinge.
«Du bist doch schon ein großer Junge«, sagte er. Und dabei war er sieben Jahre jünger als ich, jedenfalls fast.»Möchtest du dich an Papis Schulter ausweinen?«Er machte eine Pause.»Hör mal, Sid, du mußt dich wirklich wieder fangen. Was auch passiert ist, es kann nicht so schlimm gewesen sein wie damals, als das Pferd dir die Hand zerquetscht hat. Es ist jetzt nicht die Zeit, um alles hinzuschmeißen, schließlich warten da noch fünf Aufträge auf Erledigung. Die Versicherung und der Überwachungsjob und die Syndikate von Lucas Wainwright.«
«Nein«, sagte ich. Ich fühlte mich bleischwer und zu nichts nütze.»Nicht jetzt, ehrlich, Chico.«
Ich stand auf und ging ins Schlafzimmer, schloß die Tür hinter mir. Ging ziellos zum Fenster und sah auf die Dächer und Schornsteine hinaus, die in dem gerade einsetzenden Regen feucht zu glänzen anfingen. Die Schornsteine waren alle noch da, obwohl die dazugehörigen Kamine längst zugemauert worden waren, die Feuer darin erloschen. Ich fühlte mich eins mit diesen Schornsteinen. Wenn ein Feuer ausging, dann fror man.
Hinter mir öffnete sich die Tür.
«Sid«, sagte Chico.
Ich sagte resigniert:»Erinnere mich daran, daß ich ein Schloß an der Tür anbringe.«
«Es ist Besuch für dich da.«
«Sag ihm, er soll gehen.«
«Es ist ein Mädchen. Louise Soundso.«
Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und den
Kopf bis in den Nacken. Entspannte mich. Wandte mich vom Fenster ab.
«Louise McInnes?«
«Ja, genau.«
«Sie teilt sich die Wohnung mit Jenny«, sagte ich.
«Ach, die. Na gut, Sid, wenn du heute nichts mehr für mich hast, werde ich mal losziehen. Und… äh… du bist doch morgen hier, oder?«
«Ja.«
Er nickte. Alles Weitere blieb ungesagt. Belustigung, Spott, Freundschaft und unterdrückte Sorge — all das war in seinem Gesicht und in seiner Stimme… Vielleicht erkannte er es auch bei mir. Wie dem auch sei, er grinste mich breit an, als er hinausging, und ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und dachte bei mir, daß es bestimmte Schulden gab, die man einfach nicht zurückzahlen konnte.
Louise stand in der Mitte des Zimmers und sah sich so um, wie ich das in Jennys Wohnung getan hatte. Durch ihre Augen sah ich mein Wohnzimmer ganz neu: seinen unregelmäßigen Grundriß, seine hohe Decke, sein unmodernes Aussehen. Und das Ledersofa, am Fenster das Tischchen mit den Getränken, die Bücherregale, die gerahmten Drucke an den Wänden und das große Gemälde, auf dem ein Pferderennen dargestellt war und das hinter der Tür an der Wand lehnte, weil ich mich noch nicht dazu hatte aufraffen können, es endlich mal aufzuhängen. Überall standen Kaffeetassen und Gläser und volle Aschenbecher herum, und natürlich waren da auch die Briefstapel — auf dem Couchtisch und überall sonst.
Louise sah ebenfalls anders aus — die komplette Inszenierung, nicht das Wesen, das am Sonntagmorgen aus dem Bett hochgescheucht worden war. Eine braune Samtjacke, ein strahlend weißer Pullover, ein dezent gemusterter, brauner Wollrock und ein breiter Ledergürtel um die Taille, die von Gewichtsproblemen nichts wußte. Blondes Haar, gewaschen und schimmernd, ein leichtes Make-up auf der an englische Rosen erinnernden Haut. Eine Distanziertheit im Blick, die zu verstehen gab, daß all dieser Honig nicht vornehmlich dazu da war, die Bienen anzulocken.
«Mr. Halley.«
«Warum versuchen Sie’s nicht mit Sid?«sagte ich.»Sie kennen mich doch schon recht gut, und sei es auch nur indirekt.«
Ihr Lächeln reichte nicht ganz bis zu mir.»Also Sid.«
«Louise.«
«Jenny meint, Sid ist ein Name für Klempnergesellen.«
«Keine schlechten Leute, Klempnergesellen.«
«Wußten Sie«, sagte sie und setzte dabei ihre visuelle Inspektionstour fort,»daß im Arabischen Sid soviel wie Herr, Gebieter bedeutet?«
«Nein, das wußte ich nicht.«
«Tja, es ist aber so.«
«Das könnten Sie eigentlich mal Jenny sagen«, meinte ich.
Ihr Blick kehrte sehr schnell zu meinem Gesicht zurück.»Sie läßt Sie nicht los, was?«
Ich lächelte.»Mögen Sie einen Kaffee? Oder einen Drink?«
«Tee.«
«Aber gern.«
Sie begleitete mich in die Küche und sah zu, wie ich Tee machte. Sie enthielt sich dabei aller komischen Bemerkungen über Bionik und künstliche Hände, was sie wohltuend von sehr vielen neuen Bekannten unterschied, die zumeist fasziniert waren und dies in aller Ausführlichkeit aussprachen. Statt dessen sah sie sich mit unaufdringlicher Neugier um und richtete ihr Augenmerk schließlich auf den Kalender, der am Türgriff eines der Fichtenholzschränkchen hing. Fotografien von Pferden, das weihnachtliche Werbegeschenk einer Buchmacher-Firma. Louise blätterte die Seiten um, besah sich die Bilder der kommenden Monate und hielt beim Dezember inne. Das Bild zeigte die Silhouette eines Pferdes mit Jockey beim Sprung über den» Chair «in Aintree, in gekonnter Manier gegen den Himmel fotografiert.
«Das ist toll«, sagte sie — und dann nach Lektüre der Bildlegende überrascht:»Das sind ja Sie.«
«Ein sehr guter Fotograf.«
«Haben Sie das Rennen gewonnen?«
«Ja«, sagte ich müde.»Nehmen Sie Zucker?«
«Danke, nein. «Sie ließ die Kalenderblätter wieder herabfallen.
«Muß seltsam sein, sich in einem Kalender wiederzufinden.«
Für mich war das nicht so seltsam. Seltsam war eher, dachte ich, wenn man sein Bild schon so oft gedruckt gesehen hatte, daß man es kaum noch bemerkte. Ich trug das Tablett ins Wohnzimmer und stellte es auf dem Briefstapel ab, der auf dem Couchtisch lag.