«Setzen Sie sich doch«, sagte ich, und wir ließen uns beide nieder.
«Das hier sind alles Briefe«, sagte ich mit einer Kopfbewegung zu dem Stapel hin,»die zusammen mit den Schecks für das Wachs gekommen sind.«
Sie sah mich zweifelnd an.»Sind die denn von irgendwelchem Nutzen?«
«Das hoffe ich«, sagte ich und erklärte ihr die Sache mit der Adressenliste.
«Ach du lieber Himmel. «Sie zögerte.»Na ja… vielleicht können Sie ja das, was ich mitgebracht habe, gar nicht gebrauchen. «Sie nahm ihre braune Lederhandtasche auf und öffnete sie.»Ich bin nicht extra deswegen hergekommen«, fuhr sie dann fort.»Eine Tante von mir wohnt hier ganz in der Nähe, und ich besuche sie öfter mal. Wie dem auch sei, ich dachte, Sie hätten das hier vielleicht gern, und ich könnte es Ihnen vorbeibringen, wo ich nun schon mal in der Gegend bin.«
Sie zog ein Taschenbuch hervor. Sie hätte es auch mit der Post schicken können, dachte ich — aber ich war ganz froh, daß sie es nicht getan hatte.
«Ich habe den Versuch unternommen, ein wenig Ordnung in das Chaos meines Zimmers zu bringen«, erklärte sie.»Ich habe eine Menge Bücher, und die haben die Neigung, sich zu stapeln.«
Ich verschwieg ihr, daß ich das gesehen hatte.»Das haben Bücher so an sich«, sagte ich.
«Und dabei habe ich das hier gefunden. Es gehört Nik-ky.«
Sie reichte mir das Taschenbuch. Ich blickte auf den Umschlag und legte es dann aus der Hand, um den Tee einzuschenken. Navigation für Anfänger. Ich reichte ihr ihre Tasse.»Interessierte er sich für Navigation?«
«Ich habe keine Ahnung. Aber ich tu’s. Ich habe es mir aus seinem Zimmer geholt. Ausgeborgt. Ich glaube, er hat es nicht mal gemerkt. Er hatte da so eine Schachtel mit persönlichen Sachen drin, wie sie Jungs ins Internat mitnehmen. Und eines Tages, als ich in sein Zimmer kam, lagen die Sachen alle auf der Kommode, als wäre er gerade beim Aufräumen. Na ja, er war nicht da, und da hab ich mir das Buch eben geborgt… Er hätte nichts dagegen gehabt, denn er war in solchen Dingen ziemlich locker… Ich hab es dann wohl in mein Zimmer getan und irgendwas oben draufgelegt und es dann schlicht vergessen.«
«Haben Sie’s gelesen?«
«Nein, bin nicht dazu gekommen. Ich hab’s schon vor Wochen verlegt.«
Ich nahm das Buch wieder zur Hand und öffnete es. Auf das Vorsatzblatt hatte jemand mit schwarzem Filzstift und in fester, gut leserlicher Schrift den Namen» John Viking «geschrieben.
«Ich weiß nicht«, sagte Louise, meine Frage vorwegnehmend,»ob das Nickys Schrift ist oder nicht.«
«Weiß Jenny das?«
«Sie hat’s nicht gesehen. Sie ist mit Toby in Yorkshire.«
Jenny und Toby. Jenny und Ashe. Du lieber Himmel, dachte ich, was erwartest du denn? Sie ist fort, sie ist fort, sie gehört dir nicht mehr, wir sind geschieden. Und ich war ja auch nicht allein geblieben, nicht so ganz.
«Sie sehen sehr müde aus«, sagte Louise zweifelnd.
Ich war verwirrt.»Ganz und gar nicht. «Ich blätterte das Buch einmal flüchtig durch. Es war, was es zu sein versprach, nämlich ein Buch über Navigation zu Wasser und in der Luft, mit Zeichnungen und Diagrammen illustriert. Koppeln, Sextant, Magnetismus, Versetzung. Nichts Auffälliges — außer einer einzigen Formel, die mit dem gleichen Filzstift wie der Name innen auf dem hinteren Einbanddeckel notiert worden war.
Auftrieb = 22,024 x V x D x (1/T1 — VT2).
Ich gab Louise das Buch.
«Sagt Ihnen das irgend etwas? Charles meinte, Sie hätten ein abgeschlossenes Mathematikstudium.«
Sie besah sich mit leicht gerunzelter Stirn die Formel.»Nicky brauchte schon einen Taschenrechner, um zwei und zwei zusammenzuzählen.«
Zwei plus zehntausend hatte er mühelos hingekriegt, dachte ich.
«Hm«, sagte sie.»Auftrieb ist gleich 22,024 mal Volumen mal Druck mal… ich glaube, das hat etwas mit Temperaturveränderung zu tun. Eigentlich nicht mein Fach. Hier geht’s um Physik.«
«Hat das denn irgendwas mit Navigation zu tun?«fragte ich.
Sie dachte konzentriert nach. Ich beobachtete ihr angespanntes Gesicht. Ein fixer Verstand unter dem schönen Haar, dachte ich.
«Komisch«, sagte sie nach einer Weile,»aber ich meine, es könnte etwas damit zu tun haben, wieviel Gewicht man mit einer Gaszelle heben kann.«
«Mit so etwas wie einem Ballon?«sagte ich nachdenklich.
«Es kommt ganz darauf an, was 22,024 ist«, sagte sie.»Das ist eine Konstante. Und das wiederum bedeutet«, fügte sie hinzu,»daß sie nur für das Gültigkeit hat, was durch diese Gleichung ausgedrückt wird.«
«Ich tue mich leichter, wenn man von mir wissen will, wer das Rennen um drei Uhr dreißig gewinnt.«
Sie sah auf die Uhr.»Damit kommen Sie drei Stunden zu spät.«
«Morgen gibt’s wieder eins.«
Sie lehnte sich entspannt in ihrem Sessel zurück, nachdem sie mir das Buch zurückgegeben hatte.»Ich glaube nicht, daß das was nützt«, sagte sie.»Aber Sie schienen an allem interessiert zu sein, was von Nickys Sachen noch aufzutreiben ist.«»Es könnte sehr wohl was nützen. Man kann nie wissen.«
«Aber wie?«
«Das Buch gehört John Viking. Und John Viking könnte Nicky Ashe kennen.«
«Aber… Sie kennen doch John Viking nicht.«
«Nein«, sagte ich,»aber er interessiert sich für Gaszellen. Und ich kenne jemanden, der sich ebenfalls dafür interessiert. Ich wette, daß die Welt der Gaszellen genauso klein ist wie die des Rennsports.«
Sie blickte auf die Briefstapel, dann auf das Taschenbuch und sagte langsam:»Ich glaube, Sie werden ihn finden. Auf die eine oder andere Art.«
Ich sah von ihr weg, ins Leere.
«Jenny sagt, daß Sie niemals aufgeben.«
Ich lächelte matt.»Sind das genau ihre Worte?«
«Nein. «Ich spürte, daß sie amüsiert war.»Bockig, egoistisch und entschlossen, seinen Willen durchzusetzen.«
«Nicht sehr weit daneben. «Ich tippte auf das Buch.»Darf ich das behalten?«
«Natürlich.«
«Danke.«
Wir sahen uns an, wie das Menschen zu tun pflegen, vor allem, wenn sie noch jünger sind, männlich und weiblich, und am Ende eines Apriltages allein in einer stillen Wohnung beieinander sitzen.
Sie erriet meinen unausgesprochenen Gedanken und sagte trocken:»Ein andermal.«
«Wie lange werden Sie noch bei Jenny wohnen?«
«Ist das für Sie von Bedeutung?«
«Hm.«»Sie sagt, Sie seien so hart wie Feuerstein. Stahl sei im Vergleich mit Ihnen Kinderkram.«
Ich dachte an Angst und Elend und Selbstekel. Ich schüttelte den Kopf.
«Was ich sehe«, sagte sie langsam,»ist ein Mann, der elend aussieht und einem unerwünschten Gast gegenüber höflich ist.«
«Sie sind erwünscht«, sagte ich.»Und mir fehlt nichts.«
Sie stand trotzdem auf, und ich folgte ihrem Beispiel.
«Ich hoffe«, sagte ich,»daß Sie Ihre Tante sehr gern haben.«
«Ich vergöttere sie.«
Sie schenkte mir ein kühles, halb ironisches Lächeln, in dem auch Überraschung lag.
«Auf Wiedersehen… Sid.«
«Auf Wiedersehen, Louise.«
Als sie gegangen war, knipste ich ein paar Tischlampen an, um der langsam anbrechenden Dämmerung entgegenzuwirken, goß mir einen Whisky ein, besah mir ein Bündel bleicher Würstchen im Kühlschrank und briet sie mir nicht.
Jetzt würde wohl niemand mehr kommen, dachte ich. Meine Besucher hatten alle auf ihre Weise die Schatten ferngehalten, ganz besonders Louise. Jetzt würde kein Wesen aus Fleisch und Blut mehr erscheinen, aber er würde da sein, wie er auch in Paris dagewesen war… Trevor Deansgate. Unausweichlich. Mich unerbittlich an das erinnernd, was ich so gerne vergessen hätte.