Nach einer Weile zog ich Hose und Hemd aus und schlüpfte in einen kurzen, blauen Bademantel. Dann nahm ich den Arm ab. Es war eines der Male, wo das wirklich weh tat. Nach allem, was vorgefallen war, schien es jedoch kaum von Belang zu sein.
Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück, um mich noch ein wenig der Unordnung dort anzunehmen, aber es gab einfach zuviel aufzuräumen — und so stand ich nur da, besah mir alles, stützte wie so oft meinen schwachen linken Armstumpf mit der starken, heilen, beweglichen rechten Hand und fragte mich, was einen wohl mehr zum Krüppel machte, eine innerliche oder eine äußerliche Amputation.
Erniedrigung und Zurückweisung, Hilflosigkeit und Versagen.
Nach all diesen Jahren würde ich mich nicht, dachte ich elend, würde ich mich, verdammt noch mal, nicht von der Angst unterkriegen lassen.
Kapitel 9
Lucas Wainwright rief mich am nächsten Morgen an, als ich gerade dabei war, Tassen in die Geschirrspülmaschine zu räumen.
«Irgendwas Neues?«erkundigte er sich, ganz Commander.
«Es tut mir wirklich leid«, sagte ich bedauernd,»aber ich habe alle diese Notizen verloren. Ich muß noch mal von vorne anfangen.«
«Ach du liebe Güte!«Er war alles andere als erfreut. Ich erzählte ihm nicht, daß die Aufzeichnungen verlorengegangen waren, als man mir eins auf den Schädel gegeben und ich den braunen Umschlag schnell in den Gully hatte fallen lassen.»Na, dann kommen Sie mal sofort her. Eddy ist bis heute nachmittag weg.«
Langsam und unbeteiligt beendete ich meine Aufräumar-beiten, dachte dabei an Lucas Wainwright und daran, was er für mich tun könnte, wenn er wollte. Dann setzte ich mich an den Tisch und notierte mir meine Wünsche an ihn. Daraufhin besah ich mir, was ich geschrieben hatte, und auch meine Finger — und schauderte. Dann faltete ich das Blatt, steckte es in die Tasche und begab mich zum Port-man Square, entschlossen, es Lucas doch nicht zu geben.
Er hatte die Unterlagen schon in seinem Büro zurechtgelegt, und ich setzte mich an denselben Tisch wie zuvor und schrieb noch einmal ab, was ich an Informationen benötigte.
«Sie werden die Sache jetzt doch nicht noch länger schleifen lassen, Sid, oder?«
«Nein, sie bekommt absolute Priorität«, sagte ich.»Ich fange morgen an und werde nachmittags nach Kent fahren.«
«Gut. «Er erhob sich, als ich meine Notizen in einen neuen Umschlag steckte, und wartete darauf, daß ich mich verabschiedete — nicht so sehr, weil er keine Geduld mehr mit mir gehabt hätte, sondern weil das so seine Art war. Energisch. War eine Sache erledigt, kam die nächste dran, keine Rumtrödelei, bitte.
Ich zögerte feige und stellte dann überrascht fest, daß ich schon sprach, bevor ich mich noch bewußt entschieden hatte, ob ich es tun sollte oder nicht.»Erinnern Sie sich noch, Commander, daß Sie mir bei unserer ersten Besprechung sagten, Sie könnten mir zwar kein Geld für den Job anbieten, wohl aber Ihre Hilfe, sollte ich sie benötigen?«
Ich erreichte ein verständnisvolles Lächeln und einen Aufschub der Verabschiedung.
«Selbstverständlich erinnere ich mich daran. Aber Sie haben den Auftrag ja noch gar nicht ausgeführt. Um was für eine Hilfe ginge es denn?«
«Nun ja… es ist nicht viel… äh… sehr wenig. «Ich zog das zusammengefaltete Blatt hervor und überreichte es ihm. Wartete, bis er die wenigen Worte darauf gelesen hatte. Kam mir vor, als hätte ich eine Mine gelegt und würde gleich drauftreten.
«Wüßte nicht, was dagegen spräche«, sagte er.»Wenn Sie unbedingt wollen. Sind Sie denn auf etwas gestoßen, von dem wir unterrichtet sein sollten?«
Ich deutete auf das Papier.»Sie erfahren alles so schnell wie ich, wenn Sie das da für mich tun. «Das war keine sehr befriedigende Antwort, aber er hakte nicht nach.»Das einzige, worum ich Sie bitten möchte, ist, daß mein Name nicht erwähnt wird. Lassen Sie keinen wissen, daß das meine Idee war, niemanden. Ich… äh… Sie könnten mich damit ums Leben bringen, Commander. Ich scherze nicht.«
Er blickte von mir auf das Blatt und wieder auf mich und runzelte die Stirn.»Das sieht aber nicht nach einer lebensgefährlichen Sache aus, Sid.«
«Das weiß man immer erst dann genau, wenn man tot ist.«
Er lächelte.»In Ordnung. Ich werde den Brief im Namen des Jockey Club schreiben und das mit der Lebensgefährlichkeit ernst nehmen. Zufrieden?«
«Voll und ganz.«
Wir gaben uns die Hand, und ich verließ, den braunen Umschlag unter dem Arm, sein Büro. Als ich auf den Portman Square hinaustreten wollte, kam gerade Eddy Keith von draußen herein. Wir blieben beide kurz stehen, wie man das so tut, und ich hoffte inständig, daß er meinem Gesichtsausdruck nicht ansehen konnte, welchen Schrecken mir seine vorzeitige Rückkehr einjagte, oder gar erraten, daß ich das Material unter dem Arm trug, das zu seinem Sturz führen könnte.
«Eddy«, sagte ich lächelnd und kam mir dabei wie ein Verräter vor.
«Hallo, Sid«, erwiderte er fröhlich, und seine Äuglein über den rundlichen Backen zwinkerten mir zu.»Was treiben Sie denn hier?«Eine gutmütig gestellte, ganz normale Frage. Kein Argwohn. Keine Befürchtungen.
«Ich sammle Brosamen auf«, sagte ich.
Er kicherte fett.»Nach allem, was ich höre, sind wir es doch, die von Ihren leben. Sie werden uns noch alle brotlos machen, jawohl, ganz fix.«
«Aber woher denn.«
«Pfuschen Sie uns bloß nicht ins Handwerk, Sid.«
Das Lächeln war noch immer da, die Stimme frei von jeder Drohung. Das Kraushaar, der mächtige Schnurrbart, das große, dickliche Gesicht — das alles strahlte nach wie vor nichts als Wohlwollen aus. Aber in seinen Augen war ganz kurz arktische Kälte sichtbar geworden und wieder verschwunden, und ich hatte nicht den geringsten Zweifel, daß mir da eine sehr ernst gemeinte Warnung zugegangen war.
«Nie und nimmer, Eddy«, sagte ich mit falscher Aufrichtigkeit.
«Wir sehn uns, alter Knabe«, sagte er, bereit, seinen Weg in das Gebäude fortzusetzen. Er grinste mich breit an und verpaßte mir den üblichen, herzlichen Schlag auf die Schulter.»Passen Sie auf sich auf.«
«Sie auch, Eddy«, sagte ich hinter ihm her — und ganz leise und irgendwie bekümmert noch einmaclass="underline" »Sie auch.«
Ich brachte die Aufzeichnungen sicher in meine Wohnung, dachte ein wenig nach und rief dann meinen GaszellenExperten an.
Der sagte hallo und wie schön, mal wieder was von dir zu hören, und wie’s denn mal mit einem Glas Bier wäre und nein, von einem John Viking habe er noch nie was gehört. Ich las ihm die Gleichung vor und fragte, ob sie ihm irgend etwas sage, und da lachte er und meinte, das klinge ganz nach einer Formel, die es einem gestatte, mit einem Heißluftballon zum Mond zu fliegen.
«Herzlichen Dank«, sagte ich sarkastisch.
«Nein, mal im Ernst, Sid. Die Formel dient zur Berechnung einer maximalen Flughöhe. Frag mal einen Ballon-fahrer. Die sind dauernd hinter Rekorden her… größte Höhe, weiteste Entfernung, solche Sachen.«
Ich fragte, ob er irgendwelche Ballonfahrer kenne, aber er sagte nur, es tue ihm leid, damit könne er nicht dienen, sein Gebiet seien Luftschiffe. Und wir verabschiedeten uns mit der erneuten, vagen Versicherung, uns irgendwann demnächst mal irgendwo treffen zu wollen. Müßig und ohne jede Hoffnung auf Erfolg blätterte ich im Telefonbuch herum — und da standen unglaublicherweise plötzlich klar und deutlich die Worte» Gesellschaft der Heißluftballonfahrer«, dabei die Londoner Anschrift und die Telefonnummer.
Ich rief dort an. Ein Mann mit angenehmer Stimme sagte, daß er John Viking natürlich kenne, wie ihn jeder andere auch kenne, der mit der Ballonfahrt zu tun habe, er sei ein Verrückter erster Klasse.
Ein Verrückter?
John Viking, erklärte er, riskiere als Ballonfahrer mehr als jeder andere. Wenn ich ihn sprechen wolle, würde ich ihn mit Sicherheit bei der Ballonwettfahrt am Montagnachmittag finden können.