Ich seufzte und sagte:»Kann schon sein«- und dachte an Trevor Deansgate. Dachte an ihn und versuchte, es nicht zu tun. Wenn man gar keine Hände mehr hatte, konnte man auch nicht mehr Auto fahren… Nur nicht daran denken, sagte ich mir. Du darfst einfach nicht dran denken, sonst wirst du endgültig zum Waschlappen.
Ich fuhr erneut zu schnell um eine Kurve, was mir keinen Kommentar, wohl aber einen Seitenblick von Chico einbrachte.
«Guck auf die Karte«, sagte ich.»Oder tu sonst irgendwas Nützliches.«
Wir fanden das Haus von Peter Rammileese ohne große Schwierigkeiten und fuhren auf einen kleinen Bauernhof, der so aussah, als hätten die Außenbezirke von Tunbridge Wells einen Bogen darum gemacht, so daß er wie eine Insel im Meer davon abstach. Ein großes, dreigeschossiges Haus, ein neu erbauter Holzstall und eine lange, sehr hohe Scheune. Das Anwesen strahlte nicht unbedingt Wohlhabenheit aus, aber Brennesseln wucherten dort auch nicht gerade.
Kein Mensch zu sehen. Wir hielten an und stiegen aus.
«Haustür?«fragte Chico.
«Bei Bauernhäusern der Hintereingang.«
Wir waren erst ein paar Schritte in diese Richtung gegangen, als ein kleiner Junge aus einer der Türen der Scheune heraus- und atemlos auf uns zugerannt kam.
«Haben Sie den Krankenwagen mitgebracht?«rief er uns zu.
Er sah an mir vorbei auf mein Auto, und in seinem Gesicht spiegelten sich Erregung und Enttäuschung. Er hatte Reithosen und ein T-Shirt an, war etwa sieben Jahre alt und hatte geweint.
«Was ist denn los?«fragte ich.
«Ich hab angerufen, daß sie einen Krankenwagen herschicken… schon vor so langer Zeit.«
«Vielleicht können wir ja helfen«, sagte ich.
«Meine Mama«, sagte er.»Sie liegt da drin und will gar nicht wieder aufwachen.«
«Na los, dann bring uns mal zu ihr.«
Er war ein kräftiger kleiner Bursche mit braunem Haar und braunen Augen — und er hatte große Angst. Er lief zur Scheune zurück, und wir folgten ihm. Als wir eingetreten waren, sahen wir, daß es gar keine Scheune war, sondern eine Reithalle, etwa zwanzig mal fünfunddreißig Meter groß, die ihr Licht durch Fenster im Dach erhielt. Der Boden war mit einer dicken Schicht bräunlicher Sägespäne bedeckt, ein Belag, der gut für ein leichtes, geräuschloses Arbeiten von Pferden geeignet war.
Ein Pony und ein Reitpferd liefen im Kreis herum, und auf dem Boden lag eine zusammengekrümmte, weibliche Gestalt.
Chico und ich liefen schnell zu ihr hin. Die Frau war noch jung, lag auf der Seite, das Gesicht halb nach unten gedreht. Bewußtlos, wie mir schien, aber nicht sehr tief. Ihre Atmung war flach, und ihre Haut unter dem Make-up zeigte bleiche Flecken, aber der Puls an ihrem Handgelenk war gleichmäßig und kräftig. Der Sturzhelm, der ihr keinen Schutz geboten hatte, lag ein paar Meter entfernt in den Sägespänen.
«Los, ruf noch mal an«, sagte ich zu Chico.
«Sollten wir sie nicht erst mal hier rausholen?«fragte er.
«Nein, besser nicht… falls sie was gebrochen hat. Man kann eine Menge Schaden anrichten, wenn man Bewußtlose zu viel bewegt.«
«Auf dem Gebiet bist du ja wohl Experte. «Er drehte sich um und lief in Richtung Wohnhaus davon.
«Ist sie schlimm verletzt?«fragte der Junge ängstlich.»>Bingo< hat plötzlich gescheut, und da ist sie runtergefallen. Ich glaube, er hat ihr gegen den Kopf getreten.«
«>Bingo<, ist das das Pferd?«»Der Sattel ist verrutscht«, sagte er — und >Bingo<, den Sattel unter dem Bauch, bockte und schlug noch immer aus wie ein Rodeopferd.
«Und wie heißt du?«
«Mark.«
«Soweit ich das beurteilen kann, Mark, wird deine Mama bald wieder in Ordnung sein. Und du bist ein tapferer kleiner Kerl.«
«Ich bin sechs«, sagte er, als mache ihn das weit weniger klein. Aus seinen Augen war nun, da er Hilfe hatte, die schlimmste Angst gewichen. Ich kniete mich neben seine Mutter und strich ihr das braune Haar aus der Stirn. Sie gab ein leises Stöhnen von sich, und ihre Augenlider zuckten. Sie war in der kurzen Zeit seit unserem Eintreffen der Oberfläche schon deutlich nähergekommen.
«Ich hab gedacht, sie stirbt«, sagte der Junge.»Wir hatten vor kurzem ein Kaninchen. das keuchte so und machte die Augen zu, und wir konnten es nicht mehr wach kriegen, und dann ist es gestorben.«
«Deine Mutter wacht wieder auf.«
«Bestimmt?«
«Ja, Mark, da bin ich ganz sicher.«
Das schien ihn wirklich zu beruhigen, und er erzählte mir nun bereitwillig, daß das Pony > Sooty < hieß und ihm gehörte, daß sein Vater bis morgen früh verreist war, daß nur seine Mama und er da waren und daß die Mutter >Bin-go< ausbildete, um ihn dann an eine Frau zu verkaufen, die Springreiterin war.
Chico kehrte zurück und meldete, daß der Krankenwagen auf dem Wege sei. Der Junge, den das ungeheuer zu erleichtern schien, meinte, wir sollten doch noch die Pferde einfangen, weil sie so unruhig hin und her liefen und die Zügel so lose seien, und wenn Sattel und Zaumzeug kaputtgingen, dann würde sein Vater stinkwütend werden.
Chico und ich mußten über seine ernsthafte Erwachsenensprache lachen. Während er und Chico bei der Patientin Wache hielten, fing ich mit Hilfe von ein paar Zuk-kerstücken aus Marks Tasche die Pferde nacheinander ein und band sie an Halteringen fest, die in die Wand eingelassen waren. >Bingo< beruhigte sich sofort, als ich ihn endlich von den lästigen Riemen und dem Sattel befreite, und Mark ließ seine Mutter kurz allein, um seinem Pony ein paar ermutigende Klapse und noch ein Zuckerstück zu verabfolgen.
Chico berichtete mir derweil, daß beim Notdienst tatsächlich bereits vor mehr als einer Viertelstunde der Anruf eines Jungen eingegangen war, der aber wieder aufgelegt hatte, bevor sie ihn noch nach seiner Adresse hatten fragen können.
«Erzähl ihm das lieber nicht«, riet ich.
«Du bist vielleicht ein Softie.«
«Mark ist ein sehr tapferer kleiner Kerl.«
«Nicht schlecht für so einen kleinen Scheißer. Während du die widerspenstigen Gäule eingefangen hast, hat er mir erzählt, daß sein Daddy ziemlich oft stinkwütend wird. «Er blickte auf die noch immer bewußtlose Frau hinab.»Du glaubst doch wirklich, daß sie okay ist oder?«
«Sie kommt wieder hoch. Ist nur eine Frage der Zeit.«
Wenig später traf der Krankenwagen ein, und Marks Angst war in alter Stärke wieder da, als die Sanitäter seine Mutter auf eine Bahre legten, in den Wagen schoben und davonfahren wollten. Er wollte unbedingt mitfahren, aber die Männer waren nicht bereit, ihn ohne Begleitung mitzunehmen. Seine Mutter bewegte sich und murmelte etwas, was ihn stark beunruhigte.
Da sagte ich zu Chico:»Fahr du ihn ins Krankenhaus… fahr einfach dem Krankenwagen nach. Er muß sie bei vollem Bewußtsein sehen und erleben, daß sie wieder mit ihm spricht. Ich seh mich derweil mal im Haus um. Sein Vater ist bis morgen weg.«
«Wie praktisch«, sagte er ironisch. Er ließ Mark in den Scimitar klettern, und dann fuhren sie davon. Ich konnte durchs Rückfenster sehen, wie sie sich angelegentlich miteinander unterhielten.
Ich betrat das Haus mit der Selbstsicherheit des gebetenen Gastes. Kein Problem, in den Tigerkäfig zu steigen, wenn der Tiger nicht drin war.
Es war ein altes Haus, angefüllt mit einer aufdringlich neuen, opulenten Einrichtung, die einen fast erschlug. Flauschige Teppiche in knalligen Farben, riesige Stereoanlage, eine goldene Nymphe als Stehlampe und tiefe Sessel mit schwarz-braunem Zickzackmuster. Wohn- und Eßzimmer blitzsauber — kein Hinweis darauf, daß auch ein kleiner Junge hier wohnte. Die Küche aufgeräumt, hygienisch saubere Arbeitsflächen. Arbeitszimmer…
Die geradezu aggressive Ordentlichkeit des Arbeitszimmers machte mich stutzig und ließ mich nachdenken. Ich war noch nie einem Pferdehändler begegnet, der seine Papiere und Bücher derart säuberlich auf Kante stapelte. Und als ich die Bücher aufschlug, erwiesen sie sich als peinlich genau geführt und auf dem allerletzten Stand.