Ich blickte in Schubfächer und Aktenschränke und achtete dabei sorgfältigst darauf, daß ich nichts durcheinanderbrachte — aber ich fand nichts als eine Zurschaustellung größter Rechtschaffenheit. Keine einzige Schublade oder Schranktür war abgeschlossen. Es sah fast so aus, dachte ich zynisch, als ob das Ganze eine Bühnenkulisse wäre, darauf angelegt, ein ganzes Heer von Steuerprüfern zu beschämen. Die echten Bücher, soweit es überhaupt welche gab, hatte er wahrscheinlich in einer Keksdose irgendwo draußen im Garten vergraben.
Ich ging nach oben. Marks Zimmer war unschwer zu erkennen, aber alle seine Spielsachen waren in Schachteln, alle seine Anziehsachen in Kommoden geräumt. Es gab drei unbenutzte Schlafzimmer mit den Konturen zusammengelegten Bettzeugs unter den Tagesdecken und eine aus Schlaf-, Ankleide- und Badezimmer bestehende Suite, so teuer und reinlich ausstaffiert wie die unteren Räume.
Eine ovale, dunkelrote Badewanne mit goldenen Wasserhähnen in Gestalt von Delphinen. Ein riesiges Bett mit einer hellen, brokatenen Tagesdecke, die sich mit dem krampfigen Teppichboden biß. Keine Unordnung auf dem creme- und goldfarbenen, schnörkeligen Frisiertischchen, keine herumliegenden Bürsten im Ankleidezimmer.
Die Garderobe von Marks Mama bestand aus Pelzen, Flitter, Reithosen und — Jacken, die seines Papas aus derbem Tweed, Lamahaarmantel, einem Dutzend oder mehr Anzügen, keiner davon maßgeschneidert, aber alle ganz offensichtlich gekauft, weil sie teuer waren. Haufenweise Schwarzgeld, dachte ich, und nicht viel, was man damit anfangen konnte. Peter Rammileese war, wie es schien, mehr von Natur aus Betrüger als aus Notwendigkeit.
Auch hier herrschte die gleiche, unglaubliche Ordentlichkeit — in jedem Fach, auf jedem Regalbrett und selbst im Wäschekorb, in dem ein säuberlich zusammengefalteter Schlafanzug lag.
Ich durchsuchte die Taschen seiner Anzüge, aber es war nicht das geringste darin zu finden. Keinerlei Papiere oder Zettel im ganzen Ankleidezimmer.
Frustriert stieg ich in das zweite Obergeschoß hinauf, wo sich sechs weitere Räume befanden, von denen einer eine
Ansammlung leerer Koffer enthielt, die anderen gar nichts.
Niemand, dachte ich, als ich mich wieder nach unten begab, ließ eine so exzessive Vorsicht walten, wenn er nicht etwas zu verbergen hatte — eine Einsicht, die man dem Gericht aber wohl kaum als Beweismittel präsentieren konnte. Das gegenwärtige Leben der Familie Rammileese spielte sich in einem teuren Vakuum ab, und von ihrer Vergangenheit war keine Spur zu finden. Keine Souvenirs, keine alten Bücher, nicht einmal Fotos — mit Ausnahme eines neueren von Mark auf seinem Pony, das draußen im Hof aufgenommen worden war.
Ich sah mich gerade in den Nebengebäuden um, als ich Chico zurückkommen hörte. Außer sieben Pferden und den beiden in der Reithalle waren keine Tiere vorhanden, Hinweise auf irgendeine sonstige Bewirtschaftung auch nicht. In der Sattelkammer herrschten nur noch mehr Ordnung und Sauberkeit und der Geruch von Lederfett. Ich ging zu Chico hinaus, um mich zu erkundigen, was er mit Mark gemacht hatte.
«Die Schwestern stopfen ihn mit Keksen voll und versuchen, seinen Daddy zu erreichen. Mama ist bei Bewußtsein und spricht wieder. Und was hast du geschafft? Willst du fahren?«
«Nein, fahr du. «Ich setzte mich neben ihn auf den Beifahrersitz.»Dieses Haus ist der verdächtigste Fall von Ge-schichtslosigkeit, der mir je untergekommen ist.«
«Was du nicht sagst.«
«Doch. Und nicht die geringste Aussicht, eine Verbindung zu Eddy Keith festzustellen.«
«Also war die Fahrt umsonst«, sagte er.
«Ein Glück für Mark.«
«Ja. Ist schon ein herziger kleiner Scheißer. Hat mir erzählt, daß er mal Möbelpacker werden will. «Chico warf mir einen Blick zu und grinste.»Soweit er sich erinnern kann, sind sie schon dreimal umgezogen.«
Kapitel 10
Chico und ich verbrachten den größten Teil des Sonnabends damit, jeder für sich einen Teil der Londoner Adressen von der M-Liste der Politurbesteller abzuklappern, und trafen uns um sechs Uhr mit wundgelaufenen Füßen und durstig in einem Pub in Fulham, den wir beide kannten.
«Wir hätten das nicht an einem Samstag und noch dazu an einem verlängerten Wochenende machen sollen«, sagte Chico.
«Nein«, stimmte ich ihm zu.
Chico sah zu, wie das Bier appetitlich ins Glas rann.»Mehr als die Hälfte war nicht da.«
«Bei mir dasselbe. Sogar fast alle.«
«Und die, die zu Hause waren, schauten sich in der Glotze Pferderennen oder Ringkämpfe an oder fummelten an ihren Miezen rum und wollten nichts wissen.«
Wir trugen sein Bier und meinen Whisky zu einem kleinen Tischchen an der Wand, nahmen einen großen Schluck und verglichen unsere Ergebnisse. Chico hatte alles in allem vier Leute festnageln können, ich nur zwei, aber das reichte schon.
Alle sechs waren — auf welchen Adressenlisten sie sonst noch stehen mochten — glückliche und regelmäßige Bezieher der Zeitschrift Antiques for All.
«Da hätten wir’s ja«, sagte Chico.»Eindeutige Sache. «Er
lehnte sich entspannt und zufrieden gegen die Wand.»Montag ist alles zu, vor Dienstag können wir nichts machen.«
«Hast du morgen schon was vor?«
«Hab Erbarmen! Das Mädchen in Wembley!«Er warf einen Blick auf die Uhr und schüttete den Rest seines Biers hinunter.
«Und damit ade, Sid, alter Junge, aber ich komm sonst zu spät. Sie mag es gar nicht, wenn ich total verschwitzt bei ihr erscheine.«
Er grinste und ging, und ich trank etwas langsamer mein Glas aus und begab mich nach Hause.
Wanderte umher. Tauschte die Batterien aus. Aß ein paar Cornflakes. Nahm die Rennberichte zur Hand und schlug die Pferde der Syndikate nach. Höchst unterschiedliche Form — Rennen waren bei niedrigen Quoten verloren und bei hohen gewonnen worden. Alle Anzeichen einer regelmäßigen, gekonnten Manipulation. Ich gähnte. So etwas kam andauernd vor.
Ich wurschtelte weiter unruhig herum, vermißte heftig den Frieden, den ich für gewöhnlich fand, wenn ich an diesem Ort mit mir allein war. Zog mich dann aus und meinen Bademantel an, nahm den Arm ab. Versuchte, mir was im Fernsehen anzuschauen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Machte den Apparat wieder aus.
Normalerweise nahm ich den Arm erst ab, wenn ich den Bademantel schon angezogen hatte, denn auf diese Weise vermied ich, den Teil meines Körpers sehen zu müssen, der unterhalb des linken Ellbogens übriggeblieben war. Mit der Tatsache als solcher hatte ich mich einigermaßen abgefunden, nicht aber mit dem Anblick, obwohl es eine durchaus saubere und keineswegs so grausige Sache war wie die zerquetschte Hand. Ich wußte, daß dieser leichte Abscheu nicht gerechtfertigt war, aber ich empfand ihn trotzdem. Es war mir auch zuwider, wenn andere — den Orthopäden ausgenommen — es sahen, selbst bei Chico. Ich schämte mich, und auch das war durch nichts gerechtfertigt. Menschen ohne Behinderung konnten dieses Gefühl der Scham nicht verstehen — und auch ich hatte es nicht nachvollziehen können, jedenfalls nicht bis zu dem Tag kurz nach meinem Unfall, an dem ich dunkelrot angelaufen war, weil ich jemanden hatte bitten müssen, mir das Fleisch auf meinem Teller kleinzuschneiden. Danach war es dann sehr oft vorgekommen, daß ich lieber gehungert als einen anderen um Hilfe gebeten hatte. Daß ich das nicht mehr mußte, seit ich die elektronische Hand hatte, war für mich eine psychische Erlösung von geradezu seelenrettenden Dimensionen gewesen.
Die neue Hand hatte mir wieder zu dem Status eines normalen menschlichen Wesens verholfen. Nun behandelte mich keiner mehr wie einen Schwachsinnigen oder mit jenem Mitgefühl, bei dem ich mich vorher so oft innerlich gewunden hatte. Niemand mehr war übertrieben rücksichtsvoll oder brachte vor lauter Angst, etwas Falsches zu sagen, keinen Ton mehr heraus. Die Zeit der mich zu absoluter Nutzlosigkeit verdammenden Entstellung erschien mir rückblickend wie ein unerträglicher Alptraum.