Noch eine Sekunde, dann mußte er mich sehen… ich blickte mich hastig um und entdeckte, daß ich vor dem Wohnwagen der Wahrsagerin stand. Vor der Tür hing ein Fliegenvorhang aus Plastikbändern, schwarz und weiß, und dahinter war eine schattenhafte Gestalt zu erkennen. Ich machte vier schnelle Schritte, schob mich durch die Plastikbänder und trat in den Wohnwagen.
Hier drinnen war es still und dämmerig, das Tageslicht drang kaum durch die mit Spitzengardinchen verhängten Scheiben. Die Einrichtung pseudoviktorianisch, mit nachgemachten Petroleumlampen und Deckchen aus Chenille. Draußen ging der Spürhund vorbei, warf dem Wagen der Wahrsagerin nur einen flüchtigen Blick zu. Seine Aufmerksamkeit war nach vorn gerichtet. Er hatte mich nicht hier hineinschlüpfen sehen. Die Wahrsagerin dagegen schon, und für sie bedeutete ich Kundschaft.
«Möchten Sie Ihr ganzes Leben, mein Lieber, mit Vergangenheit und allem, oder nur die Zukunft?«
«Äh…«:, brachte ich hervor.»Tja, ich weiß nicht so recht. Wie lange dauert’s denn?«»Eine Viertelstunde, mein Lieber, wenn’s das Ganze sein soll.«
«Dann machen wir nur die Zukunft.«
Ich sah zum Fenster hinaus. Ein Teil meiner Zukunft suchte mich zwischen den Autos, die um den Reitplatz standen, stellte Fragen und bekam eine Menge geschüttelter Köpfe zu sehen.
«Setzen Sie sich hier neben mich aufs Sofa, mein Lieber, und geben Sie mir Ihre linke Hand.«
«Sie müssen die Rechte nehmen«, sagte ich abwesend.
«Nein, mein Lieber. «Ihre Stimme klang ziemlich scharf.»Immer die Linke.«
Ich setzte mich belustigt hin und reichte ihr gehorsam die Linke. Sie befühlte sie und betrachtete sie und blickte dann mich an. Sie hatte dunkles Haar, war klein und mollig, von mittlerem Alter und in keiner Weise bemerkenswert.
«Also schön«, sagte sie nach einer kleinen Pause,»dann muß es wohl doch die Rechte sein, obwohl ich das nicht gewohnt bin und die Ergebnisse deshalb vielleicht nicht so gut ausfallen.«
«Ich laß es drauf ankommen«, sagte ich. Wir tauschten die Plätze auf dem Sofa, und sie hielt meine Rechte fest in ihren beiden warmen Händen. Ich beobachtete, wie mein Verfolger an der Reihe der Autos entlanglief.
«Sie haben viel gelitten«, sagte sie.
Da sie über meine linke Hand Bescheid wußte, beeindruckte mich diese Wahrsagung nicht sonderlich, und das schien sie zu spüren, denn sie hüstelte entschuldigend.
«Macht es Ihnen was aus, wenn ich meine Kristallkugel nehme?«fragte sie.
«Nein, nein, nur zu.«
Ich hatte die vage Vorstellung, daß sie nun in eine riesige, auf einem Tisch stehende Kristallkugel hineinschauen werde, aber sie holte eine ganz kleine hervor, etwa von der Größe eines Tennisballs, und legte sie in meine Hand.
«Sie sind ein lieber Mensch«, sagte sie.»Sanft. Die Leute mögen Sie und lächeln Ihnen zu.«
Draußen, nur zwanzig Meter entfernt, waren die beiden Schlägertypen wieder zusammengetroffen und hielten Kriegsrat. Bei ihnen war kein Lächeln zu entdecken.
«Sie werden von jedermann geachtet.«
Der übliche Kram, darauf angelegt, dem Kunden zu gefallen. Das sollte Chico mal hören, dachte ich. Sanft, lieb, geachtet. er würde platzen vor Lachen.
Sie sagte in zweifelndem Ton:»Ich sehe eine große Menschenmenge, man klatscht und jubelt. Laute Rufe, Applaus.«
Ich wandte mich ihr langsam zu. Ihre dunklen Augen sahen mich ruhig an.
«Das ist die Vergangenheit«, sagte ich.
«Noch nicht lange her«, entgegnete sie.»Es ist noch da.«
Ich glaubte nichts von alledem. Ich glaubte nicht an Wahrsager. Ich fragte mich, ob sie mich wohl schon mal gesehen hatte, auf einer Rennbahn oder im Fernsehen. Es konnte nicht anders sein.
Sie beugte sich erneut über die Kristallkugel, die sie in meiner Hand hielt und leicht über die Haut hin und her schob.
«Sie verfügen über eine gute Gesundheit. Sie haben Kraft. Sie sind körperlich sehr ausdauernd… Da ist noch viel zu ertragen.«
Sie brach ab, hob den Kopf ein wenig und runzelte die
Stirn. Ich hatte den Eindruck, daß das, was sie soeben gesagt hatte, sie irgendwie selbst überraschte.
Nach einer Weile meinte sie:»Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
«Und warum nicht?«
«Die rechte Hand ist mir ungewohnt.«
«Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Sie schüttelte ganz leicht den Kopf und hob die ruhigen, dunklen Augen.
«Sie werden lange leben.«
Ich spähte durch den Plastikvorhang hinaus. Meine Verfolger waren verschwunden.
«Was bin ich Ihnen schuldig?«fragte ich. Sie nannte den Preis, ich zahlte und ging ruhig zur Tür.
«Passen Sie auf, mein Lieber«, sagte sie.»Seien Sie vorsichtig.«
Ich drehte mich zu ihr um. Ihr Gesicht war noch immer so beherrscht wie zuvor, aber in ihrer Stimme war etwas Drängendes gewesen. Ich wollte nicht wahrhaben, welche Überzeugtheit aus ihrem Blick sprach. Vielleicht hatte sie die Beunruhigung über mein derzeitiges Problem mit den beiden Verfolgern gespürt — mehr aber auch nicht. Ich schob den Vorhang sanft beiseite und trat aus der dämmri-gen Welt unbestimmter Schrecken hinaus in das helle Sonnenlicht des Maientages, wo sie vielleicht in sehr realer Form lauerten.
Kapitel 11
Es war jetzt nicht mehr nötig zu fragen, wo die Ballons zu finden seien — sie waren nicht mehr zu übersehen. Sie fingen an, wie riesenhafte, knallig bunte Pilze emporzuwachsen, sich wie Buckel überall auf der ausgedehnten Wiesenfläche außerhalb des eigentlichen Festplatzes zu erheben. Ich hatte irgendwie die Vorstellung gehabt, daß da vielleicht drei oder vier Ballons sein würden, höchstens sechs, aber es mußten gut zwanzig sein.
Mit der Menge, die in die gleiche Richtung strömte, gelangte ich bis zum Tor in der Hecke und dann hinaus aufs freie Feld, und da wurde mir klar, daß ich die Aufgabe, John Viking zu finden, erheblich unterschätzt hatte.
Zunächst kam ich an ein Absperrseil, wo Ordner dafür sorgten, daß die herbeidrängenden Zuschauer davor stehenblieben. Es gelang mir schließlich, darunter durchzutauchen, doch nun fand ich mich in einem Wald halb gefüllter Ballons wieder, die sich überall um mich her aufwölbten und mir jede Sicht nahmen.
Die erste Gruppe von Menschen, auf die ich traf, war mit einem rosa- und purpurfarbenen Monstrum beschäftigt, dem mit Hilfe eines großen Ventilators Luft ins Maul geblasen wurde. Der Ballon war mit vier dünnen Nylonseilen an dem dazugehörigen Korb befestigt, der auf der Seite lag, und davor kniete ein junger Mann mit rotem Sturzhelm, der besorgt in seine Tiefen hineinspähte.
«Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich zu einem Mädchen,das am Rande der Gruppe stand,»wissen Sie vielleicht, wo ich John Viking finden kann?«
«Tut mir leid, nein.«
Der rote Sturzhelm kam hoch, und zwei sehr blaue Augen wurden darunter sichtbar.»Der ist hier irgendwo in der Nähe«, sagte der junge Mann höflich.»Fliegt einen >Stormcloud<-Ballon. Und würden Sie jetzt bitte so gut sein und verduften, wir haben zu tun.«
Ich hielt mich am Rande des Geschehens, versuchte, niemandem im Wege zu sein. Ballonwettfahrten waren, wie es schien, eine höchst ernsthafte Angelegenheit und nicht Anlaß zu fröhlichem Gelächter und freundlichem Geplauder. Angespannte Gesichter beugten sich über Seile und Ausrüstungsgegenstände, zählten, prüften, runzelten besorgt die Stirn. Aber kein Ballon sah wie eine Sturmwolke aus. Ich riskierte erneut eine Frage.
«John Viking? Der Vollidiot? Ja, der ist da. Fliegt einen >Stormcloud<. «Er wandte sich ab, beschäftigt und sorgenvoll.
«Welche Farben?«fragte ich schnell.
«Gelb und grün. Also bitte, nun gehn Sie doch aus dem Weg!«