Mit einer letzten, auf den Magen schlagenden, ruckartigen Drehung kam der Korb frei, und wir schwangen nun wie ein Pendel unter dem schwankenden Ballon hin und her. Mich hatte dieses Manöver endgültig als unordentliches Bündel auf dem Boden des Korbes festgeklemmt, wohingegen John Viking noch immer in vorbildlicher Haltung auf beiden Beinen stand.
Es war wirklich nicht viel Platz vorhanden, dachte ich, als ich meine Knochen zu ordnen und mich aufzurichten versuchte. Der Korb, der noch immer hin und her schwang, maß nur etwas über einen Meter im Quadrat und reichte gerade bis in Höhe der Taille. Auf zwei Seiten standen sich je vier Gasflaschen gegenüber, die mit starken Gummiriemen am Korbgeflecht festgezurrt waren. Der verbliebene längliche Raum war gerade groß genug, daß zwei Menschen so eben aufrecht nebeneinander stehen konnten: knapp ein halber Quadratmeter pro Person.
John Viking gönnte dem Brenner endlich eine Pause und sagte in die eingetretene Stille hinein grimmig:»Warum, zum Teufel, haben Sie sich nicht ordentlich festgehalten, wie ich’s Ihnen gesagt habe? Wissen Sie, daß Sie fast rausgefallen wären und mich ganz schön in Schwierigkeiten gebracht hätten?«
«Tut mir leid«, sagte ich amüsiert.»Ist es üblich, den Brenner laufen zu lassen, wenn man an einem Baum festhängt?«
«Hat uns rausgezogen, oder etwa nicht?«
«Allerdings.«
«Na also, dann beschweren Sie sich gefälligst nicht. Ich hab Sie auch nicht gebeten mitzukommen.«
Er war ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger. Sein Gesicht unter der blauen Segelmütze war kantig, konnte ihm mal zu einem Charakterkopf verhelfen, und seine blauen Augen zeigten den funkelnden Glanz, der den echten Fanatiker verrät. John Viking der Verrückte, dachte ich und fing an, ihn zu mögen.
«Überprüfen Sie mal die Seiten und sehen Sie nach, ob irgendwas fehlt.«
Er schien die Außenseiten des Korbes zu meinen, denn er selbst beugte sich über den Rand nach unten. Ich entdeckte, daß auch auf meiner Seite ein paar Bündel am Korb hingen, entweder fest angeschnallt oder frei an Seilen schwebend.
Da war auch ein kürzeres Seil, an dem nichts hing. Ich zog es ein und zeigte es ihm.
«Mist!«explodierte er.»Wahrscheinlich von den Ästen weggerissen. Plastikkanister mit Wasser. Hoffe, Sie haben keinen Durst. «Er langte nach oben und ließ den Brenner wieder eine Weile laufen, und ich lauschte seinem schleppenden Eton-Akzent nach und begriff, warum er so war, wie er war.
«Muß man Erster werden, um bei so einer Wettfahrt zu gewinnen?«fragte ich.
Er sah mich erstaunt an.»Bei der hier nicht. Das hier ist ein Zwei einhalb-Stunden-Rennen. Wer in dieser Zeit am weitesten kommt, hat gewonnen. «Er zog die Stirn in Falten.»Sind Sie etwa noch nie in einem Ballon gefahren?«
«Nein.«
«Grundgütiger Himmel«, sagte er.»Was habe ich da für Siegeschancen?«
«Nicht die geringsten, wenn ich nicht mitgekommen wäre«, sagte ich freundlich.
«Da ist was dran. «Er sah aus seiner Höhe von etwa eins neunzig auf mich herab.»Wie heißen Sie eigentlich?«
«Sid«, sagte ich.
Er schaute drein, als sei Sid nicht gerade ein Name, wie ihn seine Freunde trugen, fand sich aber doch mannhaft mit der Tatsache ab.
«Warum wollte eigentlich Ihre Freundin nicht mitfahren?«fragte ich.
«Wer? Ach, Sie meinen Popsy. Sie ist nicht meine Freundin.
Ich kenne sie kaum. Sie wollte einspringen, weil sich mein üblicher Mitfahrer in der vergangenen Woche bei einer etwas rauhen Landung ein Bein gebrochen hat, der alberne Mensch. Aber Popsy wollte unbedingt eine riesengroße Handtasche mitschleppen. Wollte nicht ohne sie fahren, sich um keinen Preis von ihr trennen. Ich bitte Sie! Wo ist hier wohl noch Platz für eine Handtasche, was? Und schwer war sie auch. Jedes Gramm zählt. Ein Pfund weniger an Bord, und Sie kommen eine ganze Meile weiter.«
«Wo, glauben Sie, werden wir runterkommen?«erkundigte ich mich.
«Hängt ganz vom Wind ab. «Er sah zum Himmel hinauf.»Im Augenblick fahren wir ungefähr in nordöstlicher Richtung, aber ich will noch höher gehen. Laut Wetterbericht zieht von Westen her eine Front auf, und ich denke, daß da oben ganz schön was los ist, was uns weiterhilft. Wir könnten dann gut bis Brighton kommen.«
«Brighton!«Ich hatte an etwa zwanzig Meilen gedacht, nicht an hundert. Er mußte sich irren, dachte ich — man konnte in einem Ballon unmöglich hundert Meilen in zweieinhalb Stunden zurücklegen!
«Wenn der Wind noch mehr aus Nordwest kommt, erreichen wir vielleicht die Isle of Wight. Oder Frankreich. Kommt ganz drauf an, wieviel Gas noch da ist. Wir wollen mit dem Ding hier schließlich keine Wasserlandung bauen. Können Sie schwimmen?«
Ich nickte. Ich nahm an, daß ich es noch konnte — einhändig hatte ich es noch nicht ausprobiert.»Wenn’s geht, lieber nicht«, sagte ich.
Er lachte.»Keine Bange. So ein Ballon kostet ein Heidengeld, ist viel zu teuer, um ihn zu versenken.«
Nachdem wir die Baumreihe glücklich hinter uns gebracht hatten, waren wir sehr schnell gestiegen und schwebten nun in einer Höhe dahin, aus der die Autos unten auf der Straße wie Spielzeugautos aussahen, wobei man ihre Größe und Farbe durchaus noch erkennen konnte.
Geräusche drangen klar und deutlich zu uns herauf. Man konnte die Motoren der Autos hören, das Gebell von Hunden und gelegentlich auch den Ruf eines Menschen. Die
Leute sahen zu uns hoch und winkten uns zu. Eine entrückte Welt, dachte ich. Ich befand mich in einer idyllischen Kinderwelt, trieb mit dem Wind dahin, hatte alle mich an die Erde fesselnden Gewichte abgeworfen, war frei und stieg empor, von unendlicher Freude erfüllt.
John Viking ruckte an dem Hebel, und die Flamme fauchte wieder los, schoß hinauf in die grün-gelbe Höhle wie eine rotgoldene Drachenzunge. Der Flammenstoß dauerte zwanzig Sekunden, und in der plötzlichen Stille danach stiegen wir merklich höher.
«Was für Gas verwenden Sie?«fragte ich.
«Propan.«
Er blickte über den Rand des Korbes suchend in die Landschaft, als wollte er seine Position feststellen.»Holen Sie doch bitte mal die Karte raus. Ist da in einer Tasche auf Ihrer Seite. Und lassen Sie sie ja nicht davonfliegen.«
Ich sah an der Außenseite des Korbes hinunter und fand die erwähnte Tasche, ein mappenähnliches Ding, das an dem Korbgeflecht festgebunden war, die Klappe mit einer Schnalle verschlossen. Ich machte die Schnalle auf, sah in die Tasche hinein, ergriff mit fester Hand die große, zusammengefaltete Karte und reichte sie dem Kapitän.
Der sah unverwandt auf meine linke Hand, mit der ich mich am Korbrand festgehalten hatte. Jetzt ließ ich sie wieder an meiner Seite hinuntersinken, und er hob die Augen und sah mich an.
«Sie haben ja nur eine Hand«, sagte er ungläubig.
«Stimmt.«
Er hob seine eigenen Arme in einer Geste verzweifelter Ratlosigkeit.»Also wirklich! Wie, zum Teufel, soll ich nur dieses Rennen gewinnen?«
Ich lachte.
Er warf mir erneut einen Blick zu.»Das ist überhaupt nicht komisch.«
«Doch, und wie. Ich gewinne auch gern Rennen… meinetwegen werden Sie das hier bestimmt nicht verlieren.«
Er verzog angewidert das Gesicht.»Viel nutzloser als Popsy können Sie auch nicht sein«, sagte er.»Aber die kann angeblich immerhin Karten lesen. «Er entfaltete das Blatt, das ich ihm gegeben hatte. Es war eine Navigationskarte für Piloten, und die Oberfläche war mit einem Plastiküberzug versehen, so daß man darauf schreiben konnte.
«Sehen Sie her«, sagte er.»Wir sind hier gestartet. «Er zeigte auf den entsprechenden Punkt.»Wir bewegen uns grob in nordöstlicher Richtung. Jetzt nehmen Sie die Karte und stellen Sie fest, wo wir sind. «Er machte eine kleine Pause.»Haben Sie wenigstens eine schwache Ahnung, wie man seine Uhr als Kompaß benutzen kann? Oder überhaupt von Navigation?«