Ich hatte ein Buch über Navigation, das ich noch nicht gelesen hatte, in einer der Taschen des leichten Baum-wollanoraks stecken, den ich trug. Und, Gott sei’s gedankt, in einer anderen Tasche eine voll aufgeladene Ersatzbatterie.»Geben Sie die Karte nur her«, sagte ich,»mal sehen, was sich machen läßt.«
Er übergab sie mir ohne allzu großes Zutrauen und ließ den Brenner wieder kurz laufen. Ich überschlug grob, wo wir sein müßten, blickte über den Rand des Korbes und entdeckte sofort, daß die Erde da unten ganz anders aussah als die Karte. Die Dörfer und Straßen, die auf ihr deutlich eingezeichnet waren, verloren sich im braunen und grünen Teppich der Landschaft, wirkten wie die Flecken auf einem Tarnnetz. Das Sonnenlicht ließ Schattenmuster entstehen und löste so alle klaren Umrisse auf.
Das sich unter uns ausbreitende Panorama sah überall gleich aus, machte es mir unmöglich, irgendwelche Besonderheiten zu erkennen, und bewies schlüssig, daß ich noch weniger zu gebrauchen war als Popsy.
Verdammt, dachte ich, noch mal von vorn.
Wir waren um drei Uhr gestartet, jedenfalls so etwa. Wir waren jetzt zwölf Minuten in der Luft. Am Boden hatte ein schwacher Wind aus südlicher Richtung geweht, jetzt aber fuhren wir ein bißchen schneller und nach Nordosten. Sagen wir mal… mit fünfzehn Knoten. Zwölf Minuten mit fünfzehn Knoten… das machte ungefähr drei Seemeilen. Ich hatte also an der falschen Stelle gesucht, viel zu weit weg. Wir müßten jetzt eigentlich, dachte ich, über einen Fluß kommen — und obwohl ich sehr aufmerksam nach unten blickte, hätte ich ihn fast übersehen, denn wo die Karte ein klares, blaues Band zeigte, da war in Wirklichkeit nur ein silbrig glänzendes Fädchen, das sich unauffällig zwischen einer Weide und einem Wald dahinschlängelte. Rechts davon und halb von einem Hügel verdeckt lag ein Dorf, und jenseits davon war eine Eisenbahnlinie zu erkennen.
«Wir sind jetzt hier«, sagte ich und zeigte es ihm auf der Karte.
Er warf einen Blick darauf und suchte dann den Erdboden unter uns ab.
«Alle Achtung«, sagte er,»das stimmt. Also gut, behalten Sie die Karte. Schadet ja nichts, wenn wir jederzeit wissen, wo wir gerade sind.«
Er betätigte den Hebel und ließ den Brenner längere Zeit laufen. Die Ballons vor uns flogen viel niedriger, lagen ganz eindeutig unter uns. Während der nun wieder folgenden Gesprächspause schaute er auf zwei Instrumente, die auf seiner Seite außen am Korb hingen, und knurrte vor sich hin.
«Wozu sind die da?«fragte ich.
«Höhenmesser, Steiggeschwindigkeitsmesser«, antwortete er.
«Wir sind jetzt fünftausend Fuß hoch und steigen mit achthundert Fuß pro Minute.«
«Steigen?«
«Na sicher. «Auf seinem Gesicht erschien plötzlich ein wölfisches Grinsen, aus dem ich unschwer die wilde, ruchlose Freude des ungezogenen Kindes herauslesen konnte.»Deshalb wollte ja Popsy nicht mit. Irgend jemand hat ihr gesteckt, daß ich hoch raufgehen wollte. Und das mochte sie nicht mitmachen.«
«Wie hoch?«fragte ich.
«Ich mache nie halbe Sachen«, sagte er.»Wenn ich an Wettfahrten teilnehme, dann tue ich das, um zu gewinnen. Alle wissen, daß ich gewinne. Und das mögen sie gar nicht. Sie meinen, man darf kein Risiko eingehen. Sind alle so sicherheitsbewußt heutzutage. und werden immer schlapper. Ha!«Seine Verachtung kannte keine Grenzen.»Früher, Anfang des Jahrhunderts, bei den Gordon-Bennet-Rennen etwa, da flogen sie zwei Tage und tausend Meilen und mehr. Aber heute? Sicherheit, Sicherheit, nichts als Sicherheit. «Er starrte mich an.»Wenn ich keinen Mitfahrer haben müßte, dann hätte ich bestimmt keinen. Die haben nur dauernd was zu meckern und zu klagen.«
Er zog eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche und steckte sich eine an. Wir waren von Flaschen voller Flüssiggas umgeben. Ich dachte an die Schilder, die Rauchen und offenes Feuer im Umkreis von Treibstofftanks verbieten — und schwieg.
Der Ballonpulk unter uns schien nach links zu schwenken, aber dann merkte ich, daß wir es waren, die nach rechts abdrehten. John Viking nahm die Richtungsänderung mit großer Befriedigung zur Kenntnis und entzündete ein länger anhaltendes Brennerfeuer. Wir stiegen jetzt deutlich schneller, und die Sonne stand nun nicht mehr hinter uns, sondern auf der Steuerbordseite.
Trotz des Sonnenscheins wurde es ziemlich kalt. Ein Blick über den Korbrand zeigte die Erde tief unter uns — man konnte jetzt sehr weit sehen. Ich studierte die Karte und behielt unsere Position im Auge.
«Was haben Sie an?«fragte er.
«Mehr oder weniger das, was Sie sehen«, sagte ich.
«Hm.«
Wenn der Brenner lief, wurde es über einem fast schon ein bißchen zu heiß, und aus der unteren Öffnung des Ballons strömte stets ein gewisses Maß warmer Luft. Wind gab es keinen, da der Ballon ja mit dem Wind fuhr, das heißt mit der Geschwindigkeit des Windes. Es lag einzig und allein an der Höhe, daß einem kalt wurde.
«Wie hoch sind wir jetzt?«fragte ich ihn.
Er blickte auf seine Instrumente.»Elftausend Fuß.«
«Und wir steigen weiter?«
Er nickte. Die anderen Ballons, linker Hand und weiter unter uns, wirkten vor dem Grün der Erde wie eine ferne Anhäufung leuchtend bunter Farbkleckse.
«Die werden alle da unten bei dreitausend Fuß bleiben«, sagte er.»Wegen des Flugverkehrs. «Er warf mir einen schnellen Seitenblick zu.»Sie können’s da auf der Karte sehen. Die Luftstraßen, die die zivilen Flieger benutzen, sind da eingezeichnet, ebenso die Höhen, die für andere gesperrt sind.«
«Und man darf auch mit dem Ballon so eine Straße nicht in elftausend Fuß Höhe durchqueren?«
«Sie sind gar nicht dumm, Sid«, sagte er grinsend.
Er betätigte den Hebel, der Brenner fauchte los und machte der Unterhaltung ein Ende. Ich verglich Landschaftsbild und Karte und hätte beinahe die Orientierung verloren, denn wir schienen plötzlich viel schneller vorangekommen zu sein — und nun deutlich in südöstlicher Richtung. Als ich wieder hinuntersah, waren die anderen Ballons nicht mehr auszumachen.
Als es wieder still geworden war, erklärte mir John Viking, daß die Helfer der anderen Ballonfahrer ihnen im Auto folgten, um sie einzusammeln, wenn sie gelandet waren.
«Und was ist mit Ihnen?«fragte ich.»Folgt uns auch jemand?«
Etwa gar Peter Rammileese samt Ganoven, um sich am anderen Ende auf uns zu stürzen? Wir taten ihm dabei, dachte ich flüchtig, sogar noch den Gefallen und leiteten ihn nach Südosten, das heißt nach Kent und nach Hause.
John Viking grinste sein Wolfsgrinsen und sagte:»Kein Auto der Welt könnte heute an uns dranbleiben.«
«Ist das Ihr Ernst?«rief ich aus.
Er sah auf den Höhenmesser.»Fünfzehntausend Fuß«, sagte er.»Ich hab mir für diesen Trip von den Jungs im Tower den Wetterbericht geben lassen. Windgeschwindigkeit fünfzig Knoten aus zwei neun null in fünfzehntausend Fuß Höhe, haben die gesagt. Warten Sie nur ab, Sid, mein Freund — wir kommen noch nach Brighton!«
Ich sah uns beide da in unserem taillenhohen, quadratmetergroßen Weidenkorb stehen, der von Terylen und heißer Luft getragen wurde und fünfzehntausend Fuß über dem Erdboden und — ohne daß man es wahrnahm — mit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde dahinfuhr. Ziemlich verrückt, dachte ich.
Vom Boden aus gesehen würden wir nur noch ein schwarzer Fleck sein. Kein Auto konnte mit uns mithalten. Ich grinste John Viking mit einer Zufriedenheit an, die ebenso groß war wie die seine, und er lachte laut auf.
«Kaum zu glauben«, sagte er.»Endlich habe ich mal jemanden hier oben dabei, der sich nicht vor Angst in die Hosen macht.«
Er steckte sich wieder eine Zigarette an und nahm dann einen der zum Brenner führenden Zuleitungsschläuche von einer Gasflasche ab und schraubte ihn auf die nächste. Dazu mußte er den Hahn der leeren Flasche zudrehen, das Verbindungsstück abschrauben, es auf die nächste Flasche aufschrauben und deren Hahn aufdrehen. Es gab zwei Zuleitungen, je eine für die vier Flaschen auf beiden Seiten des Korbes. Er hatte dabei die ganze Zeit die Zigarette im Mund und blinzelte durch den Rauch.