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«Seezunge?«schlug er verbindlich vor.»Soll ich den Ober rufen? Wir könnten eigentlich bald essen, meinst du nicht auch?«

Aus alter Gewohnheit bestellte er Seezungenfilet für uns beide. Ich konnte inzwischen durchaus in Restaurants essen, aber es hatte auch eine lange, unangenehme Zeit gegeben, wo meine natürliche Hand nur ein unbrauchbares, nutzloses und deformiertes Glied gewesen war, das ich, mir dieser Tatsache ständig bewußt, möglichst in Taschen verborgen gehalten hatte. Als ich mich endlich damit abgefunden hatte, war sie mir erneut zertrümmert und ganz abgenommen worden. So war wohl das Leben. Man gewann und verlor, und wenn man etwas aus den Trümmern zu retten vermochte, und sei es auch nur ein winziges Restchen von Selbstachtung, dann war das genug, um einen über die nächste Runde zu bringen.

Der Ober teilte uns mit, daß unser Tisch in zehn Minuten fertig sei, und ging still davon, Speisekarten und Bestellblock an seine Smokingjacke und die graue Seidenkrawatte gedrückt. Charles schaute auf seine Uhr und sah sich dann gemächlich in dem großen, hellen, stillen Raum um, in dem auch noch andere Menschen in beigefarbenen Sesseln saßen und den Lauf der Welt erörterten.

«Fährst du heute nachmittag nach Kempton?«fragte er.

Ich nickte.»Das erste Rennen ist um halb drei.«

«Arbeitest du gerade an einem Fall?«Für eine beiläufige Erkundigung klang das eigentlich zu verbindlich.

«Ich komme nicht nach Aynsford«, sagte ich.»Jedenfalls nicht, solange Jenny dort ist.«

Er schwieg eine Weile und sagte dann:»Ich wünschte, du kämst doch, Sid.«

Ich antwortete nicht, sah ihn nur an. Seine Augen folgten einem Kellner, der weiter entfernt sitzenden Gästen Getränke servierte, und er brauchte viel zu lange, um sich den nächsten Satz zurechtzulegen.

Er räusperte sich und sagte, ohne mich dabei anzusehen:»Bedauerlicherweise hat Jenny Geld… und ihren Namen… für ein Unternehmen hergegeben, das man wohl als betrügerisch bezeichnen muß.«

«Sie hat was?«

Sein Blick schnellte mit verdächtiger Geschwindigkeit zu mir zurück, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

«Nein«, sagte ich.»Wenn sie das wirklich getan hat, dann ist es doch wohl an dir, dich darum zu kümmern.«

«Sie hat natürlich deinen Namen benutzt«, sagte Charles.»Jennifer Halley.«

Ich konnte spüren, wie die Falle zuschnappte. Charles betrachtete mein stummes Gesicht und trennte sich mit einem kleinen Seufzer der Erleichterung von einer bestimmten Befürchtung. Er war viel zu geschickt, dachte ich bitter, als daß ich ihm hätte entwischen können.

«Sie fühlte sich zu einem Mann hingezogen«, sagte er leidenschaftslos.»Ich mochte ihn nicht sonderlich, aber das galt anfangs ja auch für dich… Ich habe dieses Fehlurteil übrigens als sehr hinderlich empfunden, weil ich danach meinem spontanen Urteil nicht mehr zu trauen wagte, jedenfalls nicht immer.«

Ich aß eine Erdnuß. Er hatte mich nicht gemocht, weil ich Jockey gewesen war und er in einem solchen keinen passenden Ehemann für seine wohlerzogene Tochter gesehen hatte — und ich hatte ihn im Gegenzug als intellektuellen und sozialen Snob abgelehnt. Es war schon ein recht eigenartiger Gedanke, daß ausgerechnet er jetzt der Mensch war, den ich von allen am meisten schätzte.

Charles fuhr fort:»Der Mann hat sie überredet, sich an einer Art Versandhandel zu beteiligen… alles furchtbar gewinnbringend und respektabel, zumindest an der Oberfläche. Eine legitime Methode, Gelder für wohltätige Zwecke zu erwirtschaften… du kennst so etwas ja. Wie Weihnachtskarten, nur daß es sich in diesem Falle, glaube ich, um irgendeine Wachspolitur für antike Möbel handelte. Die Kundschaft kaufte dieses sehr teure Wachs vor allem, weil sie wußte, daß ein Großteil des Gewinns einer guten Sache zufließen würde.«

Er blickte mich ernst an. Ich aber wartete ab — und dies ohne allzu große Hoffnung.

«Bestellungen gingen reichlich ein«, sagte er.»Und mit ihnen natürlich auch Geld. Jenny und eine Freundin von ihr hatten alle Hände voll zu tun, um mit dem Versand der Politur nachzukommen.«

«Die Jenny«, riet ich,»gegen Vorauskasse gekauft hatte?«

Charles seufzte.»Ich muß es dir also nicht genauer erklären, nicht wahr?«

«Und Jenny zahlte Porto und Verpackung und Werbebroschüren und Anschreiben?«

Er nickte.»Das eingehende Geld zahlte sie auf ein besonderes Konto ein, das von dieser Wohltätigkeitsorganisation eröffnet worden war. Und das Geld ist abgehoben worden, der Mann verschwunden, und die Wohltätigkeitsorganisation hat sich als inexistent herausgestellt.«

«Und Jennys Lage?«fragte ich.

«Leider sehr schlecht. Es könnte durchaus sein, daß Anklage erhoben wird. Ihre Unterschrift steht überall drauf, und die von dem Kerl nirgends.«

Mir war nicht nach Spott zumute. Charles registrierte mein bestürztes Schweigen und nickte verständnisvoll.

«Das war alles äußerst töricht von ihr«, sagte er.

«Hättest du sie nicht daran hindern, sie warnen können?«

Er schüttelte bedauernd den Kopf.»Ich habe von all dem ja erst gestern erfahren, als sie ganz verzweifelt in Aynsford erschien. Sie hat das Geschäft von der Wohnung aus abgewickelt, die sie sich in Oxford gemietet hat.«

Wir gingen zum Essen, und ich konnte mich hinterher überhaupt nicht mehr erinnern, wie die Seezunge geschmeckt hatte.

«Der Name des besagten Mannes ist Nicholas Ashe«, sagte Charles beim Kaffee.»Jedenfalls hat er den genannt. «Er schwieg ein Weilchen.»Mein Anwalt meint, es wäre gut, wenn du ihn ausfindig machen könntest.«

Auf der Fahrt nach Kempton waren meine Seh- und Muskelreflexe auf Autopilot geschaltet, während meine Gedanken voller Unbehagen bei Jenny weilten.

Die Scheidung hatte allem Anschein nach nicht das geringste geändert. Der kürzlich erfolgte, antiseptische Trennungsschnitt, die unpersönliche Gerichtsverhandlung, zu der wir beide nicht erschienen waren (keine Kinder, keine Unterhaltsstreitigkeiten, keine Andeutung von Versöhnungsbereitschaft — dem Antrag wird stattgegeben, der nächste Fall bitte), schien hinter unser gemeinsames Leben keinen Punkt gesetzt zu haben, ja, kaum so etwas wie ein Komma. Die gerichtliche Klärung hatte sich nicht als großer, befreiender

Neuanfang herausgestellt. Die Erholung von der emotionalen Katastrophe schien ein langwieriger Vorgang zu sein, die Scheidungsurkunde so gut wie keine Hilfe.

Hatten wir uns einst voller Freude und Leidenschaft aneinander geklammert, so zerfleischten wir uns jetzt gegenseitig, wenn uns der Zufall zusammenführte. Ich hatte fünf Jahre damit zugebracht, Jenny zu lieben, zu verlieren und zu betrauern, aber ich mochte noch so sehr wünschen, daß meine Gefühle tot seien — sie waren es nicht. Bis zur Gleichgültigkeit schien es noch ein beschwerlicher Weg zu sein.

Wenn ich ihr in ihrer mißlichen Lage half, würde sie mir das Leben zur Hölle machen. Half ich ihr jedoch nicht, würde ich es mir selbst zur Hölle machen. Warum nur, dachte ich erbittert und in ohnmächtiger Auflehnung, hatte das dumme Luder so blöde sein müssen?

Für einen Wochentag im April war Kempton recht gut besucht, obwohl ich einmal mehr Anlaß fand zu bedauern, daß in Großbritannien Rennplätze um so leichter Opfer nichtanwesender Zuschauermassen wurden, je näher sie bei London lagen. Städter mochten zwar der Wetterei verfallen sein, nicht aber der frischen Luft und den Pferden. Birmingham und Manchester hatten schon in lange zurückliegenden Tagen ihre Plätze auf Grund mangelnden Zuschauerinteresses eingebüßt, und der in Liverpool verdankte sein Überleben einzig und allein dem Grand National. Die Bahnen auf dem platten Lande jedoch platzten meistens aus allen Nähten und hatten sehr oft keine Rennkarten mehr zu vergeben — die blühendsten Gewächse entsprossen noch immer den ältesten Wurzeln.