Pferd er mir zugeteilt hatte. Es gab da einen zu meiner Gewichtsklasse passenden Fünfjährigen, den er wohl für genau richtig hielt.
Ein Stallbursche führte gerade >Flotilla< aus seiner Box auf den Hof, und ich betrachtete den Hengst voller Bewunderung.
«Na los, nun mach schon«, sagte er fröhlich.
«Was denn?«fragte ich.
«>Flotilla< reiten.«
Ich wandte mich vollkommen überrascht dem Pferd zu. Sein bestes Pferd, seine Derby-Hoffnung — und ich völlig aus der Übung und einhändig!
«Willst du nicht?«fragte er.»Das hätte dir vor zehn Jahren ganz selbstverständlich zugestanden. Und sein Jockey ist in Irland, um auf dem Curragh mitzureiten. Also reitest du ihn oder einer von meinen Jungs. und da wärst du mir, um ehrlich zu sein, schon lieber.«
Ich erhob keine Einwände. Schließlich schlug man so ein Himmelsgeschenk nicht aus. Ich hielt ihn zwar für ein bißchen verrückt, aber wenn er unbedingt wollte, hatte ich nichts dagegen. Er half mir in den Sattel, ich paßte die Bügelriemen meiner Beinlänge an und fühlte mich wie ein aus langer Verbannung Heimgekehrter.
«Möchtest du einen Helm?«fragte er und sah sich suchend um, als erwarte er, daß einer aus dem Pflaster des Hofes herauswüchse.
«Danke, dafür nicht.«
Er nickte.»Stimmt, du hast ja nie einen aufgesetzt. «Er selbst trug trotz der Hitze die gewohnte karierte Schirmmütze. Ich war immer am liebsten barhäuptig geritten, die Rennen natürlich ausgenommen. Der Hauptgrund war der, daß ich so gern die Leichtigkeit und die Bewegung der Luft spürte.
«Und eine Peitsche?«
Er wußte, daß ich immer ganz automatisch eine bei mir gehabt hatte, denn eine solche Reitpeitsche half dem Jok-key sehr dabei, das Pferd im Gleichgewicht und auf geradem Kurs zu halten. Ein leichter Schlag die Schulter hinunter tat es schon. Man wechselte die Peitsche je nach Bedarf von der einen in die andere Hand. Ich besah mir die beiden Hände vor mir und dachte, daß ich eine Peitsche doch zu leicht verlieren könnte — und es galt vor allem, mit dem Pferd zurechtzukommen.
Ich schüttelte den Kopf.»Heute nicht.«
«Also gut«, sagte er,»dann mal los.«
Mich in die Mitte nehmend, ritt der ganze Pulk aus dem Hof hinaus und auf den parallel zu den Seitenstraßen angelegten Reitwegen durch Newmarket hindurch zu den weitläufigen Trainingsbahnen auf den Limekilns. Dort schob sich Martin, der den ruhigen Fünfjährigen übernommen hatte, neben mich.
«Gib ihm sechshundert Meter zum Aufwärmen und galoppier dann eine Meile die Teststrecke rauf. Zusammen mit >Gulliver<. Ist für >Flotilla< das letzte Training vor dem Dante, also nimm ihn ruhig ordentlich ran.«
«Ist gut«, sagte ich.
«Warte noch, bis ich da oben bin«, sagte er und deutete in die entsprechende Richtung.»Da kann ich euch besser beobachten.«
«In Ordnung.«
Er ritt zufrieden davon zu einer Anhöhe, die etwa eine halbe Meile entfernt war und von der aus er die gesamte Strecke überblicken konnte. Ich wand den linken Zügel um meine Plastikfinger und wünschte mir sehnlichst, ich könnte den Zug des Pferdemauls darin spüren. Wie leicht konnte mir eine ungeschickte Bewegung unterlaufen, wie leicht konnte ich die Lage des Gebisses verschieben und das Pferd aus dem Gleichgewicht bringen, wenn ich die Zugkraft falsch einschätzte. Der Zügel in meiner Rechten fühlte sich lebendig an, er übertrug Botschaften, sagte >Flotilla< und auf umgekehrtem Wege mir, wohin der Ritt ging und wie und in welcher Geschwindigkeit. Eine ganz persönliche Sprache, uns beiden vertraut, von uns beiden verstanden.
Laß mich bloß keinen Mist bauen, dachte ich. Laß mich nur das schaffen, was ich früher tausendmal geschafft habe, laß mein altes Können wieder da sein, eine Hand hin oder her. Ich konnte ihn den Sieg im Dante und im Derby und überhaupt in allen weiteren Rennen kosten, wenn ich das hier vermasselte.
Der Jockey auf >Gulliver< ritt mit mir im Kreis herum, wartete wie ich auf den Augenblick, wo es losgehen konnte, und beantwortete meine beiläufigen Bemerkungen nur einsilbig oder knurrend. Ich fragte mich, ob er wohl >Flo-tilla< hätte reiten sollen, wenn ich nicht dagewesen wäre. Ich gab die Frage an ihn weiter, und er bejahte sie unwirsch. Pech, dachte ich. Aber deine Zeit kommt auch noch.
Martin winkte uns vom Hügel aus zu. Der Bursche auf >Gulliver< wartete einen gemeinsamen Start nicht ab, sondern gab seinem Pferd gleich die Sporen und schoß in gestrecktem Galopp davon. Du kleiner Scheißkerl du, dachte ich. Aber mach, was du willst, ich werde >Flotilla< so laufen lassen, wie’s Anlaß und Distanz erfordern, und wenn du dich auf den Kopf stellst und mit den Beinen wackelst.
Es war einfach phantastisch, wieder zu reiten. Plötzlich stimmte alles, war alles so selbstverständlich wieder da, als habe es nie eine Unterbrechung gegeben, als hätte ich nie eine Hand verloren. Ich zog den linken Zügel mit der guten wie mit der schlechten Hand und spürte die Vibrationen, die auf beiden Seiten vom Gebiß des Pferdes ausgingen — und wenn mein Reitstil vielleicht auch nicht der vollkommenste war, den man je auf dieser Bahn gesehen hatte, so erfüllte er doch seinen Zweck.
>Flotilla< ging in gleichmäßigem Arbeitsgalopp über den Turf und holte >Gulliver< mühelos ein. Ich hielt ihn dann einen großen Teil der Strecke neben dem anderen Pferd, aber da >Flotilla< das eindeutig bessere war, ließ ich ihn nach sechshundert Metern laufen, und er beendete die Meile in beachtlichem Tempo, was ihn aber ganz und gar nicht überforderte. Der ist fit, dachte ich und ließ ihn in leichten Trab übergehen. Er würde sich, da war ich mir nach diesem Ritt sicher, beim Dante gut schlagen.
Ich sagte das Martin, als ich wieder zu ihm zurückkam. Das freute ihn, und er lachte.»Du kannst wahrhaftig noch reiten. Sah völlig unverändert aus.«
Ich seufzte innerlich. Er hatte mich für einen kurzen Augenblick in das Leben zurückkehren lassen, das ich verloren hatte, aber ich war nicht mehr derselbe wie früher. Ich mochte ja einen Arbeitsgalopp hingekriegt haben, ohne mich dabei zum Narren zu machen, aber das war nun mal nicht der Gold Cup von Cheltenham.
«Ich danke dir für einen wirklich herrlichen Morgen«, sagte ich.
Wir ritten durch die Stadt zu seinem Stall zurück, frühstückten zusammen, und dann fuhr ich mit ihm in seinem Landrover mit zur Rennbahn, um mir auch sein zweites Lot bei der Arbeit anzusehen. Als wir von dieser Fahrt zurückgekehrt waren, saßen wir noch eine Weile in seinem Arbeitszimmer zusammen, tranken Kaffee und unterhielten uns, bis ich schließlich mit einigem Bedauern feststellen mußte, daß die Zeit zum Aufbruch gekommen war.
Das Telefon klingelte. Martin ging dran und hielt mir dann den Hörer hin.
«Ist für dich, Sid.«
Ich dachte, es wäre Chico, aber dem war nicht so. Zu meiner Überraschung war es Henry Thrace, der von seinem Gestüt vor den Toren der Stadt aus anrief.
«Meine Assistentin hat mir erzählt, daß sie Sie auf den Limekilns arbeiten gesehen hat«, sagte er.»Ich wollte ihr ja erst nicht glauben, aber sie war ganz sicher. Ihr Kopf, kein Helm, kein Irrtum möglich. Mit den Pferden von Martin England, sagte sie, und da hab ich halt mal versucht, ob ich Sie bei ihm erreiche.«
«Was kann ich für Sie tun?«fragte ich.
«Eigentlich ist’s eher umgekehrt«, erwiderte er.»Zumindest glaube ich das. Ich hab Anfang der Woche einen Brief vom Jockey Club bekommen, ganz offiziell und so, in dem sie mich aufforderten, sie sofort zu verständigen, falls >Gleaner< oder >Zingaloo< eingehen sollten, und auch die Kadaver nicht wegschaffen zu lassen. Als ich den Brief gelesen hatte, rief ich Lucas Wainwright an, von dem er unterzeichnet war, und wollte wissen, was zum Henker das alles zu bedeuten habe, und da sagte er mir, daß Sie es eigentlich seien, der informiert werden wolle, wenn eines der beiden Tiere einginge. Er teile mir das in aller Vertraulichkeit mit, sagte er.«