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Draußen vor der Waage stand die gleiche Versammlung vertrauter Gestalten wie immer und war in Unterhaltungen vertieft, die im Grunde seit Jahrhunderten dieselben geblieben waren. Wer würde welches Rennen reiten, wer würde gewinnen, und man sollte unbedingt das Reglement ändern, und was Soundso über sein erfolgreiches Pferd zu sagen gewußt hatte, und waren die allgemeinen Aussichten nicht düster, ach, und wußten Sie schon, daß der junge Dingsda seine Frau sitzengelassen hat? Da waren die skurrilen Geschichten und die leichten Übertreibungen und die glatten Lügen. Die ewig gleiche Mischung aus Ehrenhaftigkeit und Korruptheit, aus Prinzipientreue und Nützlichkeitserwägungen. Leute, die sich nicht scheuten zu bestechen, und Leute, die bereitwillig die Hand aufhielten. Die kleinen, gequält Hoffenden und die arroganten großen Tiere. Die Verlierer, die sich kühn herausredeten, und die Sieger, die ihre Ängste zu verbergen suchten. Alles so, wie es immer gewesen war und bleiben würde, solange es den Rennsport gab.

Ich hatte eigentlich gar nicht mehr das Recht, im Bereich vor der Waage umherzuschlendern, aber bisher hatte mir noch nie jemand den Zutritt verwehrt. Ich gehörte in die Grauzone der Ex-Jockeys — das Betreten der Waage selbst war uns zwar nicht gestattet, im übrigen aber drückte man tolerant ein Auge zu. Das innerste Heiligtum war an dem Tage futsch gewesen, an dem eine halbe Tonne Pferd mit den Vorderhufen auf meinem Mittelhandknochen gelandet war. Seitdem war ich schon froh, daß ich der Bruderschaft überhaupt noch angehören durfte, und die Sehnsucht danach, wieder reiten zu können, war bloß Bestandteil meines allgemeinen Kummers. Ein anderer Ex-Champion hatte mir einmal erzählt, daß es zwanzig Jahre gedauert habe, bis er sich nicht mehr danach verzehrte, da draußen auf den Pferden zu sitzen, und ich hatte mich herzlichst bedankt für seinen Trost.

George Caspar, der an diesem Nachmittag drei Pferde laufen hatte, war da und unterhielt sich mit seinem Jockey.

Und dann sah ich auch Rosemary, die heftig zusammenzuckte, als sie mich in zehn Meter Entfernung erblickte, und sich abrupt abwandte. Ich konnte mir die Unruhe gut vorstellen, die sie durchbebte, obwohl sie äußerlich wieder ganz die gepflegte, elegante Dame war — ein Nerz gegen den kühlen Wind, glänzende Stiefel und ein Hut aus Samt. Sollte sie befürchten, daß ich ihren Besuch bei mir ausplauderte, so irrte sie sich.

Jemand ergriff mich kaum spürbar am Ellbogen, und eine angenehme Stimme sagte:»Ein Wort unter vier Augen, Sid.«

Ich lächelte, noch bevor ich mich zu dem Sprecher umdrehte — zu Lord Friarly, Graf, Großgrundbesitzer und ein wahnsinnig netter Kerl, einer jener Leute, für die ich früher viele Rennen geritten hatte. Er war ein Aristokrat der alten Schule, um die sechzig, von untadeligen Umgangsformen, zu aufrichtigem Mitgefühl fähig, ein klein wenig exzentrisch und weitaus intelligenter als von den meisten erwartet. Sein leichtes Stottern hatte nicht das geringste mit Sprachstörungen zu tun, sondern sollte nur den Eindruck vermeiden, er wolle sich in dieser egalitären Welt vielleicht seiner sozialen Stellung brüsten.

Im Laufe der Jahre war ich mehrfach Gast in seinem Hause in Shropshire gewesen, meistens zu rennsportlichen Ereignissen im Norden des Landes, und hatte mit ihm zusammen ungezählte Meilen in den verschiedensten, recht betagten Automobilen zurückgelegt. Das Alter der Wagen war allerdings kein weiterer Ausdruck seiner zurückhaltenden Bescheidenheit, sondern entsprang seiner Abneigung, Geld an unwichtige Dinge zu verschwenden. Und wichtig im Sinne der gräflichen Einkünfte war allein die Erhaltung von Friarly Hall und der Besitz so vieler Pferde wie möglich.

«Schön, Sie zu sehen, Sir«, sagte ich.

«Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich Philip nennen.«

«O ja. Verzeihung.«

«Hören Sie«, sagte er,»ich möchte Sie um etwas bitten. Wie man mir sagt, sind Sie sehr gut darin, Dingen auf den Grund zu gehen. Wundert mich natürlich gar nicht. Sie wissen, daß ich schon immer viel auf Ihre Meinung gegeben habe.«

«Selbstverständlich helfe ich gern, wenn ich kann«, sagte ich.

«Ich werde das unbehagliche Gefühl nicht los, daß man mich irgendwie benutzt«, sagte er.»Sie wissen ja, daß ich ganz versessen darauf bin, meine Pferde laufen zu sehen, je öfter, desto lieber, wenn ich so sagen darf. Nun, im vergangenen Jahr habe ich mich bereit erklärt, als registrierter Besitzer für ein Syndikat aufzutreten… Sie kennen das ja, man teilt sich die Kosten mit acht oder zehn anderen, die Pferde laufen aber weiter unter dem Namen ihres Besitzers und seinen Farben.«

«Ja«, sagte ich und nickte,»ich hab davon gehört.«

«Na ja. die anderen Leute sind mir nicht alle persönlich bekannt. Diese Syndikate wurden von einem Burschen ins Leben gerufen, der nichts anderes macht als ebendies, nämlich Leute zusammenbringen und ihnen ein Pferd verkaufen. Sie verstehen?«

Ich nickte. Es hatte schon Fälle gegeben, wo solche Syndikatsgründer Pferde billig eingekauft und dann den Mitgliedern des Syndikats für das Vierfache des gezahlten Preises verkauft hatten. Ein gewinnbringendes kleines Geschäft, soweit auch noch nicht illegal.

«Diese Pferde laufen nicht so, wie sie es von ihrer Form her könnten, Sid«, sagte er in aller Offenheit.»Ich habe das häßliche Gefühl, daß es da irgendwo in diesen Syndikaten jemanden gibt, der bestimmt, wie die Pferde zu laufen haben. Würden Sie das für mich überprüfen? In aller Stille?«

«Ich will’s gern versuchen«, sagte ich.

«Gut«, äußerte er befriedigt.»Dachte es mir. Ich habe Ihnen deshalb auch gleich die Namen der Leute mitgebracht, die den Syndikaten angehören. «Er zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Innentasche seines Jacketts.»Hier sind sie«, fuhr er fort, entfaltete das Papier und zeigte darauf.»Vier Pferde. Die Syndikate sind alle beim Jockey Club registriert, alles einwandfrei, Bücher geprüft und so weiter. Auf dem Papier, da sieht alles vollkommen in Ordnung aus, aber wenn ich ehrlich sein soll, Sid, macht mich die Geschichte nicht sehr glücklich

«Ich will mir das mal genauer anschauen«, versprach ich, und er dankte mir ebenso überschwenglich wie aufrichtig. Nach ein paar Minuten entfernte er sich, um mit Rosemary und George zu sprechen.

In einiger Entfernung machte Bobby Unwin, Notizblock und Stift gezückt, einem mittelklassigen Trainer, wie es schien, das Leben schwer. Seine Stimme drang bis zu mir herüber, von der Aggressivität des Nordengländers geschärft und mit jenem inquisitorischen Tonfall, den er Fernsehreportern abgelauscht hatte.

«Können Sie also sagen, daß Sie mit der Art, wie Ihre Pferde laufen, voll und ganz zufrieden sind?«Der Trainer sah sich nach Fluchtwegen um und trat von einem Bein aufs andere. Es war schon erstaunlich, dachte ich, daß er sich das gefallen ließ, auch wenn Bobby Unwins gedruckte Bösartigkeit leicht noch schlimmer ausfiel, wenn er sich des Vergnügens beraubt sah, sein Opfer in direktem Gespräch einschüchtern zu können. Er hatte eine gute Schreibe, wurde mit Begeisterung gelesen und war vielen

Angehörigen der Rennsportzunft von Herzen zuwider. Zwischen ihm und mir hatte viele Jahre lang eine Art Waffenstillstand geherrscht, was in der Praxis bedeutete, daß Wörter wie» blind «und» stümperhaft «nicht mehr als zweimal pro Absatz vorkamen, wenn er von Rennen berichtete, die ich verloren hatte. Seit ich mit der Rennreiterei aufgehört hatte, stellte ich keine Zielscheibe mehr für ihn dar, und folglich gewannen wir unseren Gesprächen eine perverse Befriedigung ab — es war so, wie wenn man sich einen juckenden Pickel kratzt.

Mich aus den Augenwinkeln erspähend, ließ er sofort von dem unseligen Trainer ab und lenkte seine schnabelartige Nase in meine Richtung. Er war groß, vierzig und ging beständig damit hausieren, daß er in einem Hinterhof von Bradford das Licht der Welt erblickt habe — ein Kämpfer, der sich hatte durchboxen müssen und das niemanden je vergessen lassen würde. Uns hätte eigentlich vieles verbinden müssen, da auch ich das Produkt einer schäbigen Seitenstraße war, aber das Temperament hat nichts mit der Umgebung zu tun. Er neigte dazu, das Schicksal mit wilder Entschlossenheit anzugehen, während ich die Ruhe bevorzugte, was bedeutete, daß er viel redete und ich zuhörte.