Im Besitz ungeheurer Macht, die ihm nicht Rast noch Ruhe ließ, saß er im Erlenstern-Berg. Er hatte den Geist jedes einzelnen Landherrschers in seiner Gewalt, nicht um seine Handlungen zu bestimmen, sondern um ihn zu erforschen, um die Landinstinkte zu studieren, die er niemals ganz erfassen konnte. Er sah, wie ein Landherrscher aus Herun allein durch den Isig-Paß ritt, wie er näher und näher kam, um eine Rätselfrage von drei Sternen zu stellen. Er verwirrte den Geist des Pferdes, das der Morgol ritt, es bäumte sich schreiend auf, und der Morgol Dhairrhuwyth stürzte einen Felshang hinunter, versuchte verzweifelt, sich an Felsbrocken festzuklammern, die eine schreckliche Warnung ausstießen, während sie ihm donnernd folgten.
Lange vor diesem Tag stand er in ehrfürchtigem Staunen im weiten Thronsaal im Erlenstern-Berg, wo die Legende, die so alt war, daß sie keinen Ursprung hatte, sagte, daß der Erhabene seinen Sitz gefunden hätte. Der Saal war leer. Die ungeschliffenen Edelsteine in den Felsmauern waren trübe und matt. Generationen von Fledermäusen hingen von der Decke. Spinnen hatten Netze so zart und zerbrechlich wie Trugbilder um den Thron gewoben. Er war gekommen, um eine Frage über einen Träumer zu stellen, der tief im Berg Isig schlief. Doch es war niemand da, den er fragen konnte. Er fegte Spinnweben vom Thron und setzte sich, um über diese rätselhafte Leere nachzudenken. Und während das graue Licht zwischen den langsam verrottenden Türen verblich, begann er, Fantasiegespinste zu weben.
Er stand in einem anderen stillen, schönen Raum in einem anderen Berg, und sein Geist nahm die Gestalt eines seltsamen weißen Steins an. Er träumte einen Kindertraum, und er konnte kaum atmen, während er die zarten Bilder betrachtete, die durch ihn hindurchströmten. Eine große Stadt stand auf einer von Winden umwogten Ebene, eine Stadt, die in der Erinnerung des Kindes mit den Winden sang. Das Kind sah sie aus der Ferne. Sein Geist berührte Blätter, Lichtflecken auf Baumrinde, Grashalme; es blickte aus dem schwerfälligen Geist einer Kröte auf sich selbst zurück; sein verwischtes Gesicht spiegelte sich im Auge eines Fisches; sein windzerzaustes Haar neckte einen Vogel, der ein Nest baute. Eine Frage pulste unablässig unter den Träumen, brannte wie Feuer in seinem Herzen, als das Kind seinen Geist auswarf, das Wesen eines einzigen Blattes in sich aufzunehmen. Er stellte die Frage schließlich; das Kind schien sich beim Klang seiner Stimme umzudrehen. Seine Augen waren dunkel und rein und offen wie das Auge eines Falken.
»Was hat euch zerstört?«
Der Himmel über der Ebene wurde grau wie Stein; das Licht auf dem Gesicht des Kindes erlosch. Das Kind stand starr und gespannt, während es lauschte. Die Winde fuhren fauchend über die Ebene und drückten das hohe Gras nieder. Ein Ton baute sich auf, zu mächtig, um gehört zu werden, unerträglich. Ein Stein löste sich aus einer der schimmernden Mauern in der Stadt, sank tief in die Erde. Ein zweiter schlug auf eine Straße. Und in diesem Moment befreite sich der Ton, ein tiefes, vibrierendes, donnerndes Tosen, in dessen Herzen etwas geborgen war, das er erkannte, obwohl er nicht mehr sehen noch hören konnte und der Fisch wie eine weiße Narbe auf dem Wasser trieb und der Vogel aus dem Baum gefegt worden war.
»Was ist es?« flüsterte er und wollte durch Ghisteslohms Geist hindurch, durch den Geist des Kindes hindurch das Ende des Traums ergreifen. Doch als er ihn schon hatte, zerfloß er in wildes Wasser und in finsteren Wind, und das Auge des Kindes wurde weiß wie Stein. Sein Gesicht wurde das Ghisteslohms, dessen Augen tief eingesunken waren vor Erschöpfung, überspült wurden von einem Licht, das bleich war wie Schaum.
Morgon, der sich in tiefer Verwirrung und Bestürzung abmühte, den Faden wiederaufzunehmen, sah aus dem Augenwinkel etwas aufblitzen. Er riß den Kopf herum. Sterne schlugen ihm ins Gesicht; taumelnd verlor er einen Moment lang das Bewußtsein. Er kämpfte sich wieder empor in schimmerndes Licht und fand sich auf dem Boden wieder, Blut im Mund von einer Wunde in seiner Lippe. Er hob den Kopf. Die Spitze seines eigenen Schwerts berührte sein Herz.
Der Gestaltwandler, der vor ihm stand, hatte Augen, die so weiß waren wie die des Kindes. Er lächelte eine Begrüßung, und ein scharfer Anflug von Furcht kräuselte die Oberfläche von Morgons Geist. Ghisteslohms Blick war auf etwas hinter ihm gerichtet. Er drehte den Kopf und sah eine Frau, die zwischen den steinernen Trümmern stand. Ihr stilles, schönes Gesicht wurde flüchtig von einem rotgoldenen Himmel erleuchtet. Morgon hörte das Getöse der Schlacht, die hinter ihr tobte; einer Schlacht, die mit Schwertern und Speeren ausgetragen wurde, mit Zauberei und Waffen aus Menschenknochen, die das Wasser in den Tiefen des Meeres gereinigt und geschliffen hatte.
Die Frau neigte den Kopf.
»Sternenträger.« Kein Spott lag in ihrer Stimme. »Eure Erkenntnis wird allmählich zu weitreichend.«
»Ich bin noch immer unwissend.« Er schluckte. »Was wollt Ihr von mir? Noch immer muß ich diese Frage stellen. Mein Leben oder meinen Tod?«
»Beides. Keines von beiden.« Ihr Blick schweifte durch den Saal zu Ghisteslohm. »Meister Ohm. Was sollen wir mit Euch anfangen? Ihr erwecktet den Sternenträger zum Bewußtsein seiner Macht. Der Weise hütet sich, die Klinge zu schmieden, die ihn töten wird.«
»Wer seid Ihr?« flüsterte der Gründer. »Ich habe die Glut eines Traumes von drei Sternen vor tausend Jahren erstickt. Wo wart Ihr damals?«
»Wir haben gewartet.«
»Was seid Ihr? Ihr habt keine echte Gestalt, Ihr habt keinen Namen —«
»Wir haben einen Namen.«
Die Stimme war noch immer klar und ruhig, doch Morgon hörte einen Ton in ihr, der nicht menschlich war. Es klang, als hätte Stein oder Feuer mit leiser, vernünftiger, zeitloser Stimme gesprochen. Wieder regte sich die Angst in ihm, ein klirrender Winterwind, aus Seide und Eis gesponnen. Er formte seine Angst in ein Rätsel, und seine eigene Stimme klang ihm tonlos in den Ohren.
»Als — als der Erhabene vom Erlenstern-Berg floh, vor wem floh er da?«
Ein Feuerschein von Kraft übergoß die Hälfte ihres Gesichts mit flüssigem Gold. Sie antwortete ihm nicht. Ghisteslohms Lippen öffneten sich; sein tiefer Atemzug klang klar und deutlich durch den Tumult wie das Seufzen der zurückweichenden Brandung.
»Nein!« Er trat einen Schritt zurück. »Nein.«
Morgon gewahrte erst, daß er sich bewegt hatte, als er den plötzlichen Schmerz über seinem Herzen spürte. Seine Hand streckte sich nach dem Zauberer aus.
»Was ist es?« fragte er flehentlich. »Ich kann nichts erkennen!«
Das kalte Metall zwang ihn nach rückwärts. Sein zwingendes Verlangen schoß in einem Feuerstrahl aus den Sternen im Heft des Schwerts, so daß es dem Gestaltwandler aus der Hand sprang. Klirrend schlug es auf dem Boden auf, wo es glühend liegenblieb. Er wollte aufstehen. Der Gestaltwandler packte ihn am Kragen seines Kittels und hob die verbrannte Hand zum Schlag. Morgon starrte in die ausdruckslosen Augen und schickte einen Kraftstoß wie einen Schrei in den Geist des Zauberers. Der Schrei ging in einer kalten, stürmischen See unter. Der Gestaltwandler ließ die Hand sinken. Er zog Morgon auf die Füße und ließ ihn stehen, frei und ungehindert. Verwirrt von dem Ausmaß an Macht und von dem Ausmaß an Zurückhaltung, streckte Morgon einen letzten verzweifelten Fühler in den Geist des Zauberers und hörte nur das Branden des Meeres.
Das Schlachtgetümmel brach durch die verfaulten Mauern. Gestaltwandler drängten Händler, erschöpfte Krieger, die Wachen der Morgol in den Saal. Ihre Klingen aus Knochengebein und Eisen, untergegangenen Schiffen entrissen, droschen erbarmungslos durch das Chaos. Morgon sah, wie zwei der Wachen fielen, noch ehe er überhaupt eine Bewegung machen konnte. Er wollte nach seinem Schwert greifen. Das Knie des Gestaltwandlers traf seine Brust, als er sich niederbeugte. Er sank auf Hände und Knie nieder und wimmerte um einen Atemzug Luft. Der Saal um ihn herum wurde sehr still; er sah nur den Staub und den Schutt unter seinen Fingern. Kreiselnd drehte sich die Stille um ihn, zog ihn wie eine Spirale in ihre Mitte. Wie in einem Traum hörte er in ihrem Mittelpunkt den klaren, tropfenden Klang eines einzigen Harfentons.