Die Hand ließ seinen Arm los. Er drang in den fremden, vom Rauschen des Meeres erfüllten Geist ein, den Namen zu finden, den er in sich barg. Der Name entzog sich ihm. Er kämpfte sich durch Brandung und wogende Fluten, bis der Geist des Zauberers ihn an die Gestade seines eigenen Bewußtseins zurückwarf. Er schnappte nach Luft, als hätte er vergessen zu atmen. Schließlich hörte er die Stimme des Zauberers, die sich ins Dunkle zurückzog.
»Für Euch hat die Freiheit keinen Namen.«
Danach schlief er ein Weilchen, in dem Bemühen, an Kraft zu gewinnen. Er träumte von Wasser. Sein wütender Durst weckte ihn; er tastete nach dem Wasser, versuchte nochmals, es zu trinken. Er spie es aus, ehe er es hinunterschluckte, blieb von Husten geschüttelt knien. Er glitt wiederum in fiebrigen Schlaf und träumte nochmals von Wasser. Er spürte, wie er in das Wasser hineinfiel, kühle Dunkelheit um sich zog, tiefer und tiefer in die Stille des Wassers eindrang. Er atmete im Wasser und wachte auf, von Panik gepackt, dem Ertrinken nahe. Hände zogen ihn aus dem See, ließen ihn würgend am Ufer zurück.
Das Wasser machte ihn ein wenig klarer. Er lag ruhig da und starrte in die Dunkelheit, während er überlegte, ob sie, wenn er seinen Geist öffnete, ihn ertränken würde wie Wasser. Langsam ließ er sie in seine Gedanken hineinsickern, bis die Erinnerungen an eine einzige Nacht, die ein langes Jahr gedauert hatte, ihn überwältigten und er, wieder kopflos vor Angst, die Luft mit Feuer entzündete. Flüchtig sah er Ghisteslohms Gesicht; dann schlug die Hand des Zauberers nach seiner Flamme, und sie zerbrach in tausend Stücke wie Glas.
Er flüsterte: »Für jeden türenlosen Turm gibt es ein Rätsel, das die Tür öffnet. Das habt Ihr mich gelehrt.«
»Hier gibt es eine Tür und ein Rätsel.«
»Den Tod. Das glaubt Ihr doch selbst nicht. Sonst hättet Ihr mich ertrinken lassen. Wenn es dem Erhabenen gleichgültig ist, ob ich lebe oder sterbe, was wollt ihr dann tun?«
»Warten.«
»Warten.« Rastlos flackerte sein Geist, suchte fieberhaft nach irgendeiner Antwort. »Die Gestaltwandler warten seit Jahrtausenden. Ihr habt ihnen in jenem Augenblick, bevor sie Euch bannten, einen Namen gegeben. Was habt Ihr gesehen? Welche Kraft war stark genug, die Erdherren zu überwinden? Menschen, die die Kraft und das Gesetz ihres Daseins aus jedem lebenden Ding ziehen, aus der Erde, aus dem Feuer, dem Wasser und dem Wind. Der Erhabene wurde von den Gestaltwandlern aus dem Erlenstern-Berg vertrieben. Und dann kamt Ihr und fandet einen leeren Thron, dort, wo die Legende den Erhabenen wissen wollte. Da wurdet Ihr der Erhabene, nahmt die Macht in Eure Hände, während Ihr auf den wartetet, den die steinernen Kinder nur als den Sternenträger kannten. Ihr bewachtet die Orte des Wissens und der Macht, indem Ihr die Zauberer in Lungold versammeltet und in Caithnard lehrtet. Und eines Tages erschien der Sohn eines Fürsten von Hed in Caithnard, den Gestank von Kuhmist an den Stiefeln und eine Frage in den Augen. Aber das war nicht genug. Ihr wartet immer noch. Die Gestaltwandler warten immer noch. Auf den Erhabenen. Ihr gebraucht mich als Köder, aber er hätte mich lange zuvor hier finden können, wenn ihm etwas daran gelegen hätte.«
»Er wird kommen.«
»Das bezweifle ich. Er erlaubte Euch, das Reich jahrhundertelang zu täuschen. Ihm lag nichts am Wohl von Menschen oder Zauberern im Reich. Er ließ es zu, daß Ihr mir das Landrecht raubtet, wofür ich Euch hätte töten sollen. Ihm liegt nichts an mir.«
Wieder schwieg er, während sich seine Augen in das ausdruckslose Gesicht der Finsternis bohrten. Stumm lauschte er dem Schweigen, das sich in jedem Tropfen flüssigen Gesteins sammelte und erstarrte.
»Was«, sagte er in das Schweigen hinein, »kann solche Macht besitzen, daß es die Städte der Erdherren zerstörte? Daß es den Erhabenen selbst zwang, sich in die Verborgenheit zurückzuziehen? Was ist so mächtig wie ein Erdherr?«
Er schwieg wieder. Dann regte sich, wie ein Feuerfunke, der sich selbst zu Asche verzehrt, eine Antwort in den Tiefen seines Geistes.
Er setzte sich auf. Die Luft schien ihm plötzlich dünn, von Feuer durchwirkt; es fiel ihm schwer zu atmen.
»Die Gestaltwandler.«
Schmerzende Trockenheit lag wieder in seiner Kehle. Er hob die Hände zu den Augen und sammelte Dunkelheit, um in sie hineinzublicken. Stimmen drangen flüsternd aus seiner Erinnerung, aus den Steinen, die ihn umgaben. ›Der Krieg ist nicht beendet, nur zur erneuten Sammlung der Kräfte unterbrochen. Jene aus dem Meer. Edolen. See. Sie vernichteten uns, so daß wir nicht länger auf der Erde leben konnten. Wir konnten sie nicht beherrschen.‹ Die Stimme der Kinder, der Toten der Erdherren. Schwer sanken seine Hände auf den Steinboden, noch immer drängte die Dunkelheit gegen seine Augen. Er sah, wie das Kind sich von dem Blatt abwandte, das es in seinem Traum berührt hatte, wie es angespannt, wartend über eine Ebene hinwegblickte.
»Sie konnten ein Blatt, einen Berg, ein Samenkorn berühren und es erkennen, eins mit ihm werden. Das ist es, was Rendel gesehen hat, das ist die Kraft in ihnen, die sie liebt. Und doch haben sie einander getötet, haben ihre Kinder auf dem Grunde eines Berges begraben, wo sie sterben mußten. Sie sprachen alle Sprachen der Erde, kannten alle Gesetze, die ihr Wesen und Bewegungen bestimmte. Was geschah ihnen? Gerieten sie blindlings in ein Wesen hinein, das kein anderes Gesetz kannte als das der Macht?« Seine Stimme entfernte sich flüsternd von ihm, wie in einem Traum. »Was war das für ein Wesen?«
Er war wieder still. Ihn fröstelte vor Kälte, und doch schwitzte er. Der Geruch des Wassers zerrte erbarmungslos an ihm. Wieder streckte er die Hände danach aus, von Durst gequält. Doch seine Hände hielten inne, ehe sie den Spiegel des Sees berührten. Rendels Gesicht, traumhaft in seiner Schönheit, sah ihn aus dem stillen Wasser zwischen seinen Händen an. Ihr langes Haar umgab ihr Gesicht wie Feuer strahlen. Er vergaß seinen Durst. Lang kniete er reglos da und blickte in das Gesicht hinunter, nicht wissend, ob es echt war oder ob er es aus Sehnsucht geformt hatte. Dann schlug eine Hand in das Antlitz hinein, zertrümmerte das Bildnis, und schwankende Kreise kräuselten den Wasserspiegel bis hinaus zum Rande des Sees.
Eine mörderische, unkontrollierbare Wut riß Morgon auf die Beine. Er wollte Ghisteslohm mit bloßen Händen umbringen, doch er konnte den Zauberer nicht einmal sehen. Kraftstöße schleuderten ihn wieder und wieder zurück. Schmerz fühlte er kaum; Gestalten drehten sich schneller als Worte in seinem Geist. Er verwarf sie, während er nach dem einen Wesen suchte, das machtvoll genug war, seine Wut in sich aufzunehmen. Er spürte, wie sein Körper in Gestaltlosigkeit zerfiel; ein Klang erfüllte seinen Geist, ein tiefer, harter, wilder Klang, die Stimmen aus den fernsten Bereichen des Hinterlands. Doch sie waren nicht mehr leer und namenlos. Etwas zuckte durch ihn hindurch, schleuderte einen Lichtstrahl, der knisternd durch die Luft fuhr. Er spürte die Fülle eines fremden Geistes in dem seinen, doch seine Gedanken hatten keine Sprache, summten nur in einem Ton wie von einer vibrierenden, ungestimmten Harfensaite. Er spürte, wie sich die Wut in ihm ausdehnte, die riesige Steinkammer erfüllte. Er schleuderte den Zauberer durch die Höhle, drückte ihn wie ein vom Wind getriebenes Blatt gegen die Steine.
Dann erkannte er, welche Gestalt er angenommen hatte.
Ruckartig kehrte er in seine eigene Gestalt zurück, und die ungebändigte Energie in ihm war plötzlich erloschen. Zitternd, halb schluchzend vor Furcht und Staunen kniete er auf den Steinen. Er hörte, wie der Zauberer stolpernd von der Wand wegtorkelte. Er atmete stockend, so als wären seine Rippen gebrochen. Als Morgon durch die riesige Höhle eilte, hörte er rundherum Stimmen, die all die verschiedenen, geheimnisvollen Sprachen der Erde sprachen.