Er hörte das Prasseln des Feuers, das Rascheln von Blättern, das Heulen eines Wolfes im einsamen, mondbeschienenen Hinterland, das trockene Knistern von Maisblättern. Aus weiter Ferne dann hörte er ein Geräusch, als hätte der Berg selbst geseufzt. Er spürte, wie die Steine unter ihm leise schwankten. Ein Seevogel kreischte schrill. Jemand mit einer Hand aus Baumrinde und Licht schleuderte Morgon auf den Rücken.
Voller Bitterkeit flüsterte er, als er fühlte, wie das gestirnte Schwert ihm von der Seite gerissen wurde: »Ein Rätsel und eine Tür«.
Er wartete im Auge der Finsternis auf den Hieb des Schwertes, doch nichts berührte ihn. Er war plötzlich atemlos in ihrer Spannung des Wartens gefangen. Da riß ihn Rendels Stimme, zu einem Großen Schrei anschwellend, der die Steine in der Decke sprengte, aus seiner atemlosen Spannung.
»Morgon!«
Das Schwert sang wild im Nachhall des Schreies. Morgon hörte, wie es gegen die Steine schlug. Unwillkürlich, voller Entsetzen schrie er Rendels Namen, und wieder schwankte der Boden unter ihm, trieb ihn zum See hin. Das Schwert rutschte hinter ihm her über die Steine. Es sang noch immer, in einem seltsam hohen Ton, der verklang, als Morgon es packte und in die Scheide steckte. Ein Geräusch lag zitternd in der Luft, als wäre ein Kristall in einer der Mauern geborsten. Der Kristall summte, während er brach, summte einen tiefen, fein gestimmten Ton, der sein eigenes Herz sprengte. Andere Kristalle begannen zu summen; der Boden des Berges grollte. Die riesigen Quader des Deckengewölbes schoben sich knirschend zusammen. Staub und Geröll stürzten zischend abwärts; Kristalle zersprangen klirrend auf dem Boden. Die Stimmen von Fledermäusen, Delphinen, Bienen tönten durch die Felskammer. Spannungskräfte fuhren zuckend durch die Luft, Morgon hörte Rendel schreien. Mit einem schluchzend hervorgestoßenen Fluch sprang er auf. Der Boden unter seinen Füßen dröhnte und begann krachend zu donnern. Die eine Seite hob sich und stürzte schwergewichtig auf die andere herab. Er wurde in den See geschleudert. Der ganze See, ein riesiges, rundes Becken, aus massivem Stein gehauen, begann sich zu neigen.
Sekundenlang war er unter einer Flutwelle schwarzen Wassers begraben. Als er wieder auftauchte, hörte er ein Geräusch, als hätte der Berg selbst, an seinen Wurzeln gespalten, schmerzlich aufgestöhnt.
Ein Windstoß fuhr in die Felskammer hinein. Er drückte Morgon die Augen zu und fegte seinen eigenen Schrei zurück in seine Kehle. Er wühlte den See zu einer schwarz wirbelnden Spirale auf, die Morgon in sich einsog. Ehe das Wasser über ihm zusammenschlug, hörte er etwas, das entweder das Singen seines Blutes in seinen eigenen Ohren war oder ein Ton im Herzen der wilden Stimme des Windes.
Der See spie ihn wieder aus. Das Becken hatte sich noch weiter zur Seite geneigt, goß ihn mit dem Wasser aus, das der Felswand auf der anderen Seite zuströmte. Er holte tief Atem, tauchte unter, versuchte gegen die Flutwelle anzuschwimmen. Doch die Wogen rissen ihn zurück, schleuderten ihn dem Stein entgegen. Als er die unerbittliche Mauer vor sich auftauchen sah, spaltete sie sich plötzlich. Das Wasser drängte wirbelnd durch den Riß und zog ihn mit sich. Durch das Tosen hindurch hörte er die letzten donnernden Zuckungen des Berges, der sein eigenes Herz begrub.
Das Seewasser trieb ihn durch den zackigen Spalt, goß ihn über eine Felslippe in einen brodelnden Strom. Er versuchte, sich herauszuziehen, haschte nach vorspringenden Felsnasen, wollte sich an edelsteinblitzende Wände klammern, doch der Wind war noch immer an seiner Seite, stieß ihn ins Wasser zurück, trieb das Wasser vor sich her. Der Strom flutete in einen anderen; ein Strudel riß ihn unter einen Felsvorsprung hindurch in einen anderen Fluß. Der Fluß trug ihn schließlich aus dem Berg heraus, jagte ihn schäumende Wasserfälle hinunter und warf ihn schließlich, die Lungen voll bitteren Wassers, in die Öse.
Da erst gelang es ihm, sich ans Ufer zu ziehen. Ermattet blieb er auf dem sonnenwarmen Boden liegen. Die wilden Winde peitschten noch immer über ihn hinweg; die mächtigen Fichten neigten sich ächzend unter ihrem Druck. Prustend spie er das bittere Wasser aus, das er geschluckt hatte. Als er nach einer Weile näher an den Fluß kroch, um das süße Wasser der Öse zu trinken, hätte der Wind ihn beinahe wieder hineingeschleudert. Er hob den Kopf und blickte auf den Berg. Eine seiner Flanken war völlig eingefallen; Bäume waren entwur-zelt, im gewaltsamen Aufbäumen von Stein und Erde zersplit-tert worden. Den ganzen Paß hinunter, so weit sein Auge reichte, wütete der Wind, drückte die Bäume wie Grashalme nieder.
Er versuchte aufzustehen, aber er hatte keine Kraft mehr. Der Wind schien ihn aus seiner eigenen Gestalt reißen zu wollen. Er streckte den Arm aus; seine Hand schloß sich um riesige Wurzeln. Während der Baum unter seiner Hand erzitterte, spürte er den Quell seiner unerschütterlichen Kraft.
Er hielt sich an ihm fest, während er sich mühsam an ihm hochzog. Dann trat er von ihm weg und hob die Arme, als wollte er den Wind umschlingen.
Äste wuchsen aus seinen Händen und aus seinem Haar. Seine Gedanken verwirrten sich wie Wurzeln in der Erde. Er reckte sich aufwärts. Harztropfen rannen wie Tränen seine Rinde hinunter. Sein Name bildete sein Herz; Ring um Ring baute sich Stille um ihn auf. Sein Gesicht stieg hoch über die Wälder; in der Erde verwurzelt, dem Toben des Windes hinge-geben, verschwand er in sich selbst, hinter dem harten, windgehämmerten Schild seiner Erfahrungen.
Kap. 10
An einem regnerischen, windigen Herbsttag schrumpfte er wieder in seine eigene Gestalt zurück. Er stand im kalten Wind und zwinkerte sich die Regentropfen aus den Augen, während er sich einer langen, sprachlosen Zeitspanne zu erinnern versuchte. Die Öse, grau wie eine Messerklinge, rann kalt an ihm vorüber; die Felsnadeln des Passes waren halb verborgen unter schweren Wolken. Die Bäume um ihn herum ruhten tief in der Erde, in ihr eigenes Wesen versunken. Sie zogen an ihm. Sein Geist glitt durch ihre zähe, feuchte Rinde, zurück in einen beschaulichen Frieden, der von Baumringen eingeschlossen war. Doch ein Wind wehte zitternd durch seine Erinnerungen, erschütterte einen Berg, schleuderte ihn ins Wasser zurück, zurück in den Regen. Nur widerwillig löste er die Bindung mit der Erde und wandte sich zum Erlenstern-Berg, Er sah die riesige Narbe in seiner Flanke unter einem Dunstschleier. Das dunkle Wasser ergoß sich noch immer aus ihr, um sich mit der Öse zu vereinigen.
Lange blickte er auf den Berg, während er die Fetzen eines finsteren, beängstigenden Traumes zusammensetzte. Seine Bedeutung weckte ihn vollends; er begann im peitschenden Regen zu frösteln. Mit seinem Geist witterte er in den Nachmittag hinein. Er fand niemanden — weder Fallensteller noch Zauberer, noch Gestaltwandler — auf dem Paß. Eine vom Wind geschüttelte Krähe segelte an ihm vorüber; begierig haschte er nach ihrem Geist. Doch sie kannte seine Sprache nicht. Er gab sie wieder frei. Die wilden Winde tosten hohltönend durch die Wipfel; die Bäume um ihn herum ächzten. Sie rochen nach Winter. Nach einer langen Zeit wandte er sich ab und schickte sich an, den Kopf gegen den Wind zwischen die Schultern gezogen, dem Lauf der Öse zurück in die Welt zu folgen.
Doch schon nach ein paar Schritten stand er still und starrte sinnend ins Wasser, das sich schäumend nach Isig und Osterland und zu den nördlichen Handelshäfen des Reiches wälzte. Seine eigenen mächtigen Kräfte fesselten ihn. Nirgendwo im Reich gab es einen Platz für einen Menschen, der die Gesetze des Landrechts löste und die Gestalt des Windes annahm. Aus dem Fluß kam das Echo der Stimmen, die er gehört hatte, die in Zungen sprachen, die nicht einmal die Zauberer verstehen konnten. Er dachte an das dunkle, leere Gesicht des Windes, das der Erhabene war, der sich weigerte, ihm mehr zu geben als gerade sein Leben.