»Und wozu das?« flüsterte er.
Er wollte die Worte plötzlich schreiend gegen das ausdruckslose Gesicht des Erlenstern-Berges schleudern. Der Wind würde seinen Schrei einfach verschlucken. Er ging noch einen Schritt am Fluß hinunter gen Harte, wo er bei Danan Isig Zuflucht und Wärme finden würde. Doch der König konnte ihm keine Antworten geben. Die Vergangenheit hielt ihn gefangen; er war ein Spielball fremder Mächte, die einen uralten Krieg ausfochten, der nie geendet hatte. Und langsam begann er diesen Krieg zu begreifen. Das unbestimmte Verlangen, das sich in ihm rührte, seine eigenen befremdlichen, unberechenbaren Kräfte zu erproben, machten ihm Angst. Lange stand er am Ufer des Flusses, bis die Nebel über den Berggipfeln sich verdunkelten und Schatten die Felshänge des Erlenstern-Bergs überzogen.
Da erst wandte er sich ab, wanderte durch den Regen und eisige Nebelschwaden den Bergen zu, die die nördliche Einöde begrenzten.
Er behielt seine eigene Gestalt bei, als er sie überquerte, obwohl der Regen auf den hohen Gipfeln manchmal zu Schnee wurde und die Felsen unter seinen Händen wie Eis waren. In jenen ersten Tagen hing sein Leben an einem Fädchen, obwohl er sich dessen kaum bewußt war. Er aß, ohne sich zu erinnern, wie er getötet hatte; er wachte des Morgens in einer trockenen Höhle auf, ohne sich zu erinnern, wie er sie gefunden hatte. Doch als er sich allmählich seiner Weigerung bewußt wurde, aus den Kraftquellen zu schöpfen, die in seinem Inneren wohnten, begann er an sein Überleben zu denken. Er erlegte einige wilde Bergschafe, schleppte sie in eine Höhle und häutete sie. Während die Felle trockneten, lebte er von ihrem Fleisch. Er spitzte eine Rippe zu, stach Löcher in die Felle und zog Stoffstreifen, die er von seinem Kittel abgerissen hatte, durch sie hindurch. Er machte sich einen weiten, zottigen Umhang mit einer Kapuze und fütterte seine Stiefel mit Pelz. Dann brach er wieder auf, wanderte die Nordwand des Passes hinunter in die Einöden.
Es regnete kaum, nur die peitschenden, beißenden Winde begleiteten ihn. Nachts gab es Frost, der das flache, eintönige Land bei Sonnenaufgang in weißglühendes Feuer verwandelte. Wie der Geist eines Toten strich er durch das Land, tötete, wenn er hungrig war, schlief im Freien, denn er spürte nur selten die Kälte, so als verschmelze sein Körper ohne sein Wissen mit den Winden. Eines Tages gewahrte er, daß er nicht mehr unter dem Bogen der Sonne hindurchwanderte; er hatte sich nordwärts gewandt, zog gegen Morgen. In der Ferne konnte er eine Hügelkette erkennen, aus deren Mitte schroff, stahlblau der Grimberg emporragte. Doch er war so fern, daß er ihm fremd blieb.
Er wanderte in den Spätherbst hinein und hörte nichts als das Singen der Winde. Eines Abends, als er an seinem Feuer saß und verschwommen wahrnahm, wie die Winde an seiner Gestalt rissen, blickte er nieder und sah die gestirnte Harfe in seinen Händen.
Er konnte sich nicht erinnern, nach ihr gegriffen zu haben. Er betrachtete sie, ließ seinen Blick dem lautlosen Flackern des Feuers folgen, das an ihren Saiten hinunterhuschte. Erst nach einer langen Weile regte er sich und nahm das Instrument auf seine Knie. Seine Finger strichen ziellos, beinahe unhörbar über die Saiten, folgten dem rauhen, wilden Gesang der Winde.
Er verspürte keinen Drang mehr weiterzuziehen. Er blieb an diesem einsamen, abgelegenen Ort in der Einöde, wo es nur ein paar Steine gab, einen vom Wind gebeugten Busch, einen Spalt in der harten Erde, wo ein sickernder Bach emportauchte, nur um wenige Schritte weiter wieder unter der Erde zu verschwinden. Er verließ diesen Platz nur, um zu jagen; und immer fand er seinen Weg zurück zu ihm, als wäre er das Echo seines eigenen Harfenspiels. Er entlockte seiner Harfe die Klänge des Windes, die vom Morgen bis zur Nacht bliesen, manchmal, wenn er den schlanken, wimmernden Ostwind hörte, spielte er nur auf einer einzigen hohen Saite; manchmal spielte er auf allen, während der tiefe Ton grollend das Tosen des Nordwinds wiedergab. Wenn er aufblickte, kam es vor, daß er einen Schneehasen sitzen sah, der ihm lauschte, oder den verwunderten Blick eines weißen Falken auffing. Doch als es tiefer und tiefer in den Herbst hineinging, kamen kaum noch Tiere. Sie zogen sich in die Berge zurück, um dort Nahrung und Zuflucht zu finden. Und so saß er allein und spielte auf seiner Harfe, ein seltsames, pelzbehangenes, namenloses Geschöpf, das keine andere Stimme hatte als die der Harfe zwischen seinen Händen. Sein Körper wurde von den rauhen Winden geschliffen; sein Geist schlief wie die Einöde. Wie lange er dort geblieben wäre, sollte er nie erfahren, eines Abends nämlich, als ein Umspringen des Windes über seinem Feuer ihn aufblicken ließ, sah er Rendel.
Sie war in kostbares, silbernschimmerndes Pelzwerk ge-hüllt; ihr Haar, das der Wind aus der Kapuze gezupft hatte, flatterte wie Feuer in der Dunkelheit. Er saß ganz still. Seine Hände, die auf den Saiten der Harfe lagen, hielten inne. Sie kniete an seinem Feuer nieder, und er sah ihr Gesicht klarer, ein müdes, winterbleiches Gesicht, zu zeitloser Schönheit ge-meißelt. Er fürchtete, sie wäre ein Traum wie das Gesicht, das er im schwarzen Seewasser zwischen seinen Händen gesehen hatte. Dann aber gewahrte er, daß sie heftig zitterte. Sie streifte ihre Handschuhe ab und spann sein im Wind flackern-des Feuer mit ihren Händen zu stillen, hellen Flammen. Schlagartig wurde ihm bewußt, wie lange es her war, seit sie miteinander gesprochen hatten.
»Lungold«, flüsterte er.
Das Wort schien ohne Sinn in der Stille der Einöde. Doch sie hatte die belebte Welt verlassen und sich aufgemacht, ihn hier draußen zu suchen. Er streckte seinen Arm durch das Feuer hindurch und legte seine Hand auf ihre Wange. Stumm sah sie ihn an, als er sich wieder zurücklehnte. Sie zog die Knie an und kuschelte sich zum Schutz gegen den Wind in ihren Pelz.
»Ich habe dein Harfenspiel gehört«, sagte sie.
Lautlos berührten seine Finger die Saiten.
»Ich habe dir versprochen, daß ich es lernen würde.« Seine Stimme war rauh und rostig. »Wo warst du?« fügte er neugierig hinzu. »Du bist mir durch das Hinterland gefolgt; du warst im Erlenstern-Berg bei mir. Dann bist du verschwunden.«
Sie hob wieder den Blick zu ihm auf.
»Ich bin nicht verschwunden. Du bist verschwunden.« Ihre Stimme zitterte plötzlich. »Vom Gesicht des Reiches verschwunden. Die Zauberer haben dich überall gesucht. Und auch die Gestalt —, die Gestaltwandler. Und ich auch. Ich glaubte schon, du wärst tot. Aber hier bist du, allein mit deiner Harfe in diesem Wind, der töten kann, und dir ist nicht einmal kalt.«
Er schwieg. Die Harfe, die mit den Winden gesungen hatte, fühlte sich plötzlich kalt an unter seinen Händen. Er stellte sie neben sich auf den Boden.
»Wie hast du mich gefunden?«
»Ich habe gesucht. In jeder Gestalt, die ich mir denken konnte. Ich dachte, du wärst vielleicht bei den Vestas. Deshalb reiste ich zu Har und bat ihn, mich die Vesta-Gestalt zu lehren. Er fing auch an, aber als er meinen Geist berührte, hielt er inne und sagte mir, er glaubte nicht, daß er mich das lehren müßte. Da mußte ich ihm das natürlich erklären. Und dann mußte ich ihm alles erzählen, was im Erlenstern-Berg geschehen war. Er sagte nichts, nur daß du gefunden werden mußt. Schließlich führte er mich über den Grimberg zu den Vesta-Herden. Und während ich mit ihnen zog, hörte ich von weit her, von fernen Winden getragen dein Harfenspiel. Morgon, wenn ich dich finden kann, dann können es auch andere. Bist du hier herausgezogen, um das Harfenspiel zu erlernen? Oder bist du einfach geflohen?«
»Ich bin einfach geflohen.«
»Und — hast du — hast du vor, zurückzukehren?«
»Wozu?«
Sie blieb stumm. Das Feuer vor ihr flackerte unstet, verwob sich mit dem Wind. Sie machte es wieder still, während ihre Augen unverwandt auf sein Gesicht gerichtet waren. Mit einer heftigen Bewegung sprang sie auf und ging zu ihm und umschlang ihn mit beiden Armen, ihr Gesicht an den zottigen Pelz an seiner Schulter gedrückt.