»Morgon?« Seine Stimme war tief und volltönend, gleichzeitig rauh, voll von Geheimnissen wie die Stimme eines tiefen Brunnens. »Tretet ein. Oder seid Ihr schon drinnen?«
Morgon trat näher. »Ich wollte Euch nicht stören«, sagte er leise.
Yrth schüttelte den Kopf.
»Ich hörte vorhin Euer Harfenspiel. Aber ich dachte, ich würde erst morgen mit Euch sprechen können. Danan sagte mir, daß Rendel Euch in der nördlichen Einöde gefunden hat. Wurdet Ihr verfolgt? War das der Grund, weshalb Ihr Euch dort verborgen hieltet?«
»Nein. Ich wanderte ganz einfach dorthin und blieb, weil mir kein Grund einfiel, in die Welt zurückzukehren. Aber dann kam Rendel und gab mir einen Grund.«
Der Zauberer blickte schweigend in die Richtung, aus der seine Stimme kam.
»Ihr seid ein erstaunlicher Mann«, bemerkte er. »Wollt Ihr Euch nicht setzen?«
»Woher wißt Ihr, daß ich nicht sitze?« fragte Morgon neugierig.
»Ich kann den Sessel vor Euch sehen. Spürt Ihr die geistige Verbindung? Ich sehe durch Eure Augen.«
»Ich spüre sie kaum.«
»Das kommt daher, daß ich nicht Eurem Denken und Fühlen verbunden bin, sondern nur Eurem Gesichtssinn. Ich sah die Handelsstraße auf meiner Wanderung durch die Augen fremder Menschen. In der Nacht, als Ihr von Pferdedieben überfallen wurdet, erkannte ich, daß einer von ihnen ein Gestaltwandler war, weil ich durch seine Augen die Sterne sah, die Ihr vor den Menschen verborgen haltet. Ich suchte ihn, um ihn zu töten, doch er entzog sich mir.«
»Und in der Nacht, als ich Thods Harfenspiel folgte? Habt Ihr auch da hinter das Trugbild gesehen?«
Der Zauberer schwieg wieder. Er senkte den Kopf, wandte ihn von Morgon ab; die harten Linien seines Gesichts verzogen sich mit solcher Scham und Bitterkeit, daß Morgon hastig auf ihn zutrat, entsetzt über seine eigene Frage.
»Morgon, verzeiht mir. Mit Ghisteslohm kann ich es nicht aufnehmen.«
»Ihr hättet nichts tun können, um mir zu helfen.« Seine Hände umklammerten den Rücken des Sessels. »Nicht, ohne Rendel in Gefahr zu bringen.«
»Ich tat das wenige, was ich tun konnte. Ich verdichtete die Schleier Eures Trugbildes, als Ihr verschwandet, aber — das war herzlich wenig.«
»Ihr habt uns das Leben gerettet.«
Eine plötzliche, schmerzhafte Erinnerung an das Gesicht des Harfners stieg vor ihm auf, an die Augen, die bleich und ausgebrannt waren vom Feuer und ins Leere starrten. Seine Hände ließen den Rücken des Sessels los und hoben sich über seine Augen. Er hörte, wie Yrth sich bewegte.
»Ich kann nicht sehen.«
Er senkte die Hände. Todmüde ließ er sich in den Sessel fallen. In einem Gewirr von Stimmen strichen die Winde klagend um den Turm. Yrth war still und lauschte seinem Schweigen.
Als Morgon es nicht brach, sagte er sachte: »Rendel hat mir alles, was sie wußte, von den Ereignissen im Erlenstern-Berg erzählt. Ich bin nicht in ihren Geist eingedrungen. Wollt Ihr mich in Eure Erinnerungen blicken lassen? Oder ist es Euch lieber, mir zu berichten? Wie dem auch sei, ich muß es wissen.«
»Nehmt es aus meinem Geist.«
»Seid Ihr jetzt zu müde?«
Er schüttelte ein wenig den Kopf.
»Es spielt keine Rolle. Nehmt Euch, was Ihr wollt.«
Das Feuer schrumpfte vor ihm, zersprang in leuchtende, Fragmente der Erinnerung. Noch einmal machte er seine wilde, einsame Flucht durch das Hinterland durch, stürzte aus dem Himmel in die Tiefen des Erlenstern-Bergs. Der Turm umhüllte sich mit schwarzer Nacht; er schluckte Bitterkeit wie Seewasser. Das Feuer jenseits seiner Augen flüsterte und wisperte in Sprachen, die er nicht verstand. Ein Wind fegte durch die Stimmen und wirbelte sie aus seinem Geist hinaus. Die Steinquader des Turmes erzitterten, vom tiefen Singen eines Windes erschüttert. Dann folgte eine lange Stille, in der er vor sich hindämmerte, erwärmt von sommerlichem Licht. Danach erwachte er wieder, eine seltsame, wilde Gestalt in einem Schafspelz, der dem Wind geöffnet war. Tiefer und tiefer glitt er in die reinen, tödlichen Stimmen des Winters.
Er saß an einem Feuer und lauschte den Winden. Doch sie waren jenseits eines Kreises aus Steinen; sie berührten weder ihn noch das Feuer. Er regte sich, zwinkerte mit den Augen, rückte Nacht und Feuer und das Gesicht des Zauberers wieder ins Licht der Gegenwart. Seine Gedanken sammelten sich wieder im Turm. Er sank vornüber, so müde, daß er am liebsten mit dem verlöschenden Feuer verloschen wäre. Der Zauberer stand auf, ging ein Weilchen lautlos durch das Gemach, bis eine Kommode ihn aufhielt.
»Was habt Ihr in der Einöde getan?«
»Ich habe auf meiner Harfe gespielt. Dort konnte ich jenen tiefen Ton anschlagen, den, der Stein zertrümmert.«
Er hörte seine eigene Stimme wie aus weiter Ferne und war erstaunt, daß er vernünftig sprechen konnte.
»Wie habt Ihr Euch am Leben erhalten?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht war ich eine Zeitlang halb Wind. Ich hatte Angst zurückzukommen. Was soll ich mit solchen Kräften anfangen?«
»Sie gebrauchen.«
»Das wage ich nicht. Ich habe Macht über das Landrecht. Ich begehre diese Macht. Ich möchte sie gebrauchen. Aber ich habe kein Recht dazu. Das Landrecht ist das Erbe der Könige, das vom Erhabenen mit ihnen verbunden worden ist. Ich würde alles Recht und Gesetz zerstören.«
»Vielleicht. Aber das Landrecht ist auch die reichste Quelle von Kraft im Reich. Wer anders als Ihr kann dem Erhabenen helfen?«
»Er hat nicht um Hilfe gebeten. Bittet ein Berg um Hilfe? Oder ein Fluß? Sie existieren einfach. Wenn ich seine Macht anrühre, wird er mir vielleicht genug Aufmerksamkeit schenken, mich zu vernichten, oder aber —«
»Morgon, setzt Ihr denn gar keine Hoffnung in die Sterne, die ich für Euch gemacht habe?«
»Nein.« Seine Augen schlössen sich; gewaltsam riß er sie wieder auf, hätte weinen mögen vor Anstrengung. »Ich spreche nicht die Sprache des Steins«, flüsterte er. »Für ihn bin ich einfach irgendein lebendes Wesen. Er sieht nichts als drei Sterne, die emporsteigen aus zahllosen Jahrhunderten der Finsternis, in denen macht- und kraftlose Wesen, die Menschen genannt werden, der Ehre ihren Stempel aufzudrücken suchten, so oberflächlich, daß es ihn in seiner Ruhe kaum erschüttern konnte.«
»Er gab Euch das Landrecht.«
»Ich war ein Wesen, dem das Landrecht gegeben war. Jetzt bin ich ganz einfach ein Wesen, das nur noch in der Vergangenheit ein Schicksal hat. Nie wieder werde ich die Macht eines anderen Landherrschers anrühren.«
Der Zauberer schwieg, die Augen ins Feuer gerichtet, das immer wieder vor Morgons Blicken verschwamm.
»Seid Ihr so zornig mit dem Erhabenen?«
»Wie kann ich mit einem Stein zornig sein?«
»Die Erdherren haben alle Gestalten angenommen. Was macht Euch so sicher, daß der Erhabene die Gestalt aller Dinge angenommen hat, außer der der Menschen?«
»Warum —« Er brach ab und starrte in die Flammen, bis sie die Schatten des Schlafes aus seinem Geist brannten und er wieder denken konnte. »Ihr wollt, daß ich meine eigenen Kräfte freisetze und auf das Reich loslasse.«
Yrth antwortete nicht. Morgon blickte zu ihm auf und gab ihm das Bild seines eigenen schroffen, uralten, mächtigen Gesichts zurück. Wieder spülte das Feuer über seine Gedanken. Zum erstenmal sah er plötzlich nicht das finstere Gesicht des Windes, der die Sprache der Steine sprach und den er für den Erhabenen gehalten hatte, sondern etwas Verfolgtes, Angreifbares, Gefährdetes, dessen Schweigen die einzige Waffe war, die es besaß. Der Gedanke bannte ihn in staunende Verwunderung. Langsam wurde er der Stille gewahr, die sich zwischen seiner Frage und der Antwort auf sie aufbaute.