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Er hielt den Atem an und lauschte der Stille, die ihn auf seltsame Art bedrängte wie eine Erinnerung an etwas, das ihm einmal lieb und teuer gewesen war. Die Hände des Zauberers wandten sich ein wenig zum Licht und schlössen sich dann, ihre Narben verbergend.

»Über dem ganzen Reich«, sagte der Alte, »sind Kräfte entfesselt, den Erhabenen zu finden. Die Euren werden nicht die schlechtesten sein. Seltsame Bande fesseln Euch. Das beste und das am wenigsten Verständliche von ihnen scheint die Liebe zu sein. Ihr könntet die Landherrscher um ihre Erlaubnis bitten. Sie vertrauen Euch. Und sie waren in tiefer Verzweiflung, als weder Ihr noch der Erhabene irgendwo auf dem Antlitz des Reiches zu finden wart.«

Morgon senkte den Kopf. »An sie habe ich nicht gedacht.«

Er hörte Yrth nicht, merkte erst, daß der Zauberer aufgestanden war, als sein dunkles Gewand das Holz seines Sessels streifte. Die Hand des Zauberers berührte sehr behutsam seine Schulter, so als streichelte er ein wildes, ungezähmtes Wesen, das sich furchtsam und zaghaft in seine Stille hineingewagt hatte.

Bei der Berührung wichen Verwirrung, Zorn und Widerspruch aus Morgon, ja selbst die Kraft und der Wille, gegen die ganze Geistesschärfe des Zauberers zu kämpfen. Nur die Stille blieb und ein hilfloses, unbegreifliches Verlangen.

»Ich werde den Erhabenen finden«, sagte er. Und warnend oder verheißend fügte er hinzu: »Nichts wird ihn zerstören. Ich schwöre es. Nichts.«

Kap. 11

Zwei Tage schlief er im Hause des Königs, erwachte nur einmal, um zu essen, und ein zweitesmal, um Rendel zu sehen, die an seiner Seite saß und geduldig darauf wartete, daß er erwachen möge. Er schob seine Hand in die ihre, lächelte ein wenig, wälzte sich dann auf die andere Seite und fiel wieder in Schlaf. Am Abend schließlich erwachte er mit klarem Kopf. Er war allein. Das gedämpfte Gewirr von Stimmen und das Klirren von Geschirr, das an sein Ohr drang, verrieten ihm, daß die Menschen im Haus beim Nachtmahl saßen. Rendel war wahrscheinlich bei Danan. Er wusch sich und trank etwas Wein, noch immer lauschend. Unter den Geräuschen des Hauses hörte er das unendliche, dunkle, zeitlose Schweigen, das die Höhlen und Gänge im Inneren des Berges Isig formte.

Er blieb mit dem Schweigen verbunden, bis es in seinem Geist Adern bildete. Da stieg er aus dem Turm hinunter, eilte heimlich zum Saal, wo nur Rendel und Bere ihn bemerkten, die mitten im Gespräch abbrachen, um ihm nachzublicken. Er folgte dem Pfad eines Traums, durch die leeren oberen Schächte. Von der Mauer an der Mündung eines finsteren Tunnels nahm er eine Fackel; als er in den Tunnel eintrat, flammten die Mauern um ihn herum mit feurigen, ungeschlif-fenen Edelsteinen auf. Ohne Zögern folgte er dem Faden sei-ner Erinnerung durch ein Gewirr von Gängen, an seichten Bächen und tiefen Spalten entlang, durch unberührte Höhlen, die von Gold schimmerten. Tiefer und tiefer wanderte er in die Unendlichkeit von Finsternis und Stein hinein, bis er die Stille und die Zeitlosigkeit in seine Knochen einzusaugen schien. Schließlich witterte er etwas, das noch älter war als der mäch-tige Berg. Der Pfad, den er entlangschritt, verlor sich in verfal-lenem Stein. Der Schein der Fackel schwamm über die tiefgrüne Steinplatte einer Tür, die sich einmal dem Klang seines Namens geöffnet hatte. Und da blieb er ungläubig stehen.

Der Boden war übersät von Felssplittern. Die Tür, die in die Kammern der Toten der Erdherren hineinführte, war zersprungen; eine Hälfte war in die Höhle hineingestürzt. In der Gruft selbst türmten sich riesige Brocken edelsteinfunkelnder Steine, die aus der gewölbten Decke herabgestürzt waren; die Wände hatten sich zusammengeschoben, um zu verbergen, was noch von den seltsamen bleichen Steinen im Inneren der Kammer geblieben war.

Er bahnte sich einen Weg zur Tür, doch er konnte nicht eintreten. Abgewinkelt drückte er einen Arm gegen die Tür und lehnte sein Gesicht daran. Er ließ seinen Geist in den Stein hineinfließen, durch Marmor, Amethyst und Gold sickern, bis er die Bruchstücke einesAhalb vergessenen Traums berührte. Er forschte tiefer; er fand keinen Namen, witterte nur einen Hauch von Wesen, die einmal lebendig gewesen waren.

Lange Zeit stand er so, an die Tür gelehnt, ohne sich zu rühren. Nach einer Weile erkannte er, weshalb er in die Tiefe des Berges hinuntergestiegen war, und er spürte, wie das Blut ihm rasch und kalt durch die Adern floß wie beim erstenmal, als er diese Schwelle seiner Bestimmung betreten hatte. Er gewann eine Bewußtheit, so klar wie nie zuvor, von dem Berg, der sich über seinem Kopf erhob, und von dem König, der in ihm wohnte, dessen uralter Geist in sich das Gewirr seiner Gänge und Tunnel barg, all seinen Frieden und all seine Macht. Noch einmal glitten seine Gedanken langsam durch die Tür, bis er das Herz des Steines berührte, Danans Geist fand, der in dieses winzige Bruchstück des Berges eingebunden war. Er ließ sein Gehirn Stein werden, uralt und schwer von Erz und Edelsteinen. Er trank alles Wissen, das der Stein barg, in sich hinein, das Wissen um seine große Kraft, seine geheimsten Farben, seine verwundbarste Stelle, wo er ihn mit einem Gedanken hätte zertrümmern können. Das Wissen wurde eine Bindung, ein Teil seiner selbst, der tief in seinem eigenen Geist verankert war. Als er dann im Inneren des Steines Aforschte, fand er wieder das wortlose Wissen, das Gesetz, das König an Stein band, den Landherrscher an den winzigsten Teil seines Königreichs. Er umschlang dieses Wissen, brach es, und der Stein barg keinen anderen Namen als seinen eigenen.

Er ließ sein Wissen um die Bindung in eine finstere Höhle tief in seinem Geist versinken. Langsam richtete er sich auf, schwitzend in der kühlen Luft. Seine Fackel war ausgegangen; er berührte sie, entzündete sie von neuem. Als er sich umdrehte, sah er Danan vor sich, so massig und still wie der Berg, die Züge ausdruckslos wie Felsgestein.

Unwillkürlich spannten sich Morgons Muskeln. Die Frage durchzuckte ihn, ob es eine Sprache gab, das zu erklären, was er getan hatte, ehe die schwerfällige Urkraft von Danans Zorn Steine aus ihrem Schlaf erweckte, ihn neben der Gruft der toten Kinder zu begraben. Dann sah er, wie die schwere Faust des Königs sich löste.

»Morgon.« Seine Stimme war voller Erstaunen. »Ihr wart es also, der mich hier heruntergezogen hat. Was tut Ihr?«

Als Morgon ihm nicht antworten konnte, legte er ihm sanft die Hand auf den Arm.

»Ihr habt Angst. Was tut Ihr, daß Ihr mich fürchten müßt?«

Morgon fühlte sich so leer und schwer wie ein Stein.

»Ich lerne Euer Landrecht.« Er lehnte sich an die feuchte Wand und hob Danan sein Gesicht entgegen, offen und ungeschützt.

»Woher habt Ihr solche Macht? Von Ghisteslohm?«

»Nein.« Er wiederholte das Wort leidenschaftlich. »Nein. Eher würde ich sterben, als Euch das anzutun. Nie wieder werde ich in Euren Geist eindringen —«

»Ihr seid in ihm. Isig ist mein Herz —«

»Ich werde Eure Bindungen nicht wieder zerreißen. Ich schwöre es. Ich werde ganz einfach meine eigenen bilden.«

»Aber warum? Was wollt Ihr mit solchem Wissen um Bäume und Steine?«

»Macht. Danan, die Gestaltwandler sind Erdherren. Ich kann nicht hoffen, gegen sie zu siegen, wenn ich nicht —«

Die Finger des Königs klammerten sich wie die Wurzeln eines Baumes um sein Handgelenk.

»Nein«, sagte er, wie Ghisteslohm gesagt hatte, als er sich der gleichen Erkenntnis gegenübergesehen hatte. »Morgon, das ist nicht möglich.«

»Danan«, flüsterte er, »ich habe ihre Stimmen gehört. Die Sprachen, die sie sprachen. Ich habe die Kräfte gesehen, die hinter ihren Augen eingesperrt liegen. Es ist möglich.«

Danans Hand glitt von seinem Arm. Langsam, schwerfällig ließ sich der König auf einen Haufen gesplitterter Felsbrocken sinken. Morgon, der auf ihn hinunterblickte, fragte sich plötzlich, wie alt er war. Seine Hände, die schwielig waren von Jahrhunderten harter Arbeit in den Steinen, machten eine ratlose Bewegung.