»Was wollen sie?«
»Den Erhabenen.«
Danan starrte ihn an.
»Sie werden uns vernichten.« Wieder griff seine Hand nach Morgon. »Und Euch. Was wollen sie von Euch?«
»Ich bin ihr Bindeglied zum Erhabenen. Ich weiß nicht, wie ich an ihn gebunden bin oder warum — ich weiß nur, daß ich seinetwegen aus meinem eigenen Land vertrieben wurde, daß ich seinetwegen mit Gewalt und unter Qualen in die Macht hineingetrieben wurde, bis ich jetzt selbst die Macht an mich reiße. Die Kräfte der Erdherren scheinen durch irgend etwas gefesselt zu sein. Vielleicht hat der Erhabene ihnen diese Fesseln angelegt, vielleicht ist das der Grund, weshalb sie ihn so verzweifelt suchen. Wenn es ihnen gelingt, ihn zu finden, dann werden die Kräfte, die sie gegen ihn freisetzen, uns vielleicht alle vernichten. Mag sein, daß er auf ewig in seinem Schweigen erstarrt bleibt; es fällt mir schwer, mein Leben und Euer aller Vertrauen für jemanden aufs Spiel zu setzen, der niemals spricht. Doch wenigstens werde ich, wenn ich für ihn kämpfe, auch für Euch kämpfen.« Er machte eine Pause, den Blick auf die Lichtflecken gerichtet, die das Feuer auf die rauhen, weichen Wände rundum warf. »Ich kann von Euch nicht verlangen, mir zu vertrauen«, sagte er leise. »Wo ich mir nicht einmal selbst traue. Ich weiß nur, daß der Weg, den ich gehen muß, mir von der Logik und vom Hunger vorgegeben ist.«
Er hörte das müde Seufzen des Königs, das aus den Schatten kam.
»Das Ende eines Zeitalters. Das sagtet Ihr mir, als Ihr das letztemal hier wart. Ymris ist nahezu dem Erdboden gleichgemacht. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, ehe der Krieg sich nach An und nach Herun ausbreitet und dann nach Norden über das ganze Reich. Ich habe ein Heer von Bergleuten, die Morgol hat ihre Wache, der Wolfskönig — hat seine Wölfe. Aber was ist das gegen ein Heer von Erdherren, die entschlossen sind, sich ihre Macht wieder zurückzuerobern? Und wie könnt Ihr — ein einzelner — selbst mit dem Ausmaß an Wissen um das Landrecht, das Ihr die Kraft habt, Euch anzueignen, dagegen etwas ausrichten?«
»Ich werde einen Weg finden.«
»Wie?«
»Danan, ich werde einen Weg finden. Sonst müssen wir alle sterben, und ich bin zu störrisch, um zu sterben.« Er setzte sich neben dem König nieder und ließ seinen Blick über den Schutt und das Geröll rundum schweifen. »Was ist hier geschehen? Ich wollte in den Geist der toten Kinder eintreten, um ihre Erinnerungen zu sehen, aber es ist nichts von ihnen übrig.«
Danan schüttelte den Kopf.
»Ich fühlte es gegen Ende des Sommers; eine Unruhe irgendwo im Mittelpunkt meiner Welt. Es geschah kurz bevor die Gestalt —, die Erdherren hierher kamen, um Euch zu suchen. Ich weiß nicht, wie oder von wem dieser Ort zerstört wurde.«
»Ich weiß es«, gab er flüsternd zurück. »Vom Wind. Von dem tief singenden Wind, der Gestein zertrümmert. Der Erhabene hat diesen Ort zerstört.«
»Aber warum? Er war ihr letzter Ruheplatz, der einzige Ort, wo sie Frieden hatten.«
»Ich weiß es nicht. Es sei denn — es sei denn, er fand eine andere Ruhestätte für sie, weil er selbst hier um ihren Frieden fürchtete. Ich weiß es nicht. Vielleicht wird es mir irgendwie gelingen, ihn zu finden, ihn in einer Gestalt festzuhalten, die ich begreifen kann, und ihn zu fragen, warum.«
»Wenn Ihr auch nur das fertigbringt — nur das —, dann ist das den Landherren Bezahlung genug für die Kraft, die Ihr dem Reich entzieht. Wenigstens werden wir dann wissen, warum wir sterben.« Er hievte sich hoch und legte seine Hand auf Morgons Schulter. »Ich begreife, was Ihr tut. Ihr braucht die Kräfte eines Erdherren, um die Erdherren zu bekämpfen. Wenn Ihr einen Berg auf Eure Schultern nehmen wollt, so gebe ich Euch Isig. Der Erhabene gibt uns Schweigen; Ihr gebt uns Hoffnung.«
Der König ließ ihn allein. Morgon ließ die Fackel auf den Boden fallen und sah zu, wie sie in der Dunkelheit verlosch. Er stand auf, ohne gegen seine Blindheit anzukämpfen; er sog vielmehr die Bergesschwärze in sich hinein, bis sie seinen Geist und seine Knochen auszufüllen schien. Seine Gedanken tasteten sich suchend in das Gestein rundum, glitten durch steinerne Tunnel, durch Luftschächte, durch Bäche und Rinnsale langsam fließenden, schwarzen Wassers. Er meißelte den Berg aus der Finsternis seiner ewigen Nacht heraus und nahm ihn in seinen Geist auf. Sein Geist stieß in harten Fels vor, dehnte sich nach außen durch Stein, durch Spalten der Stille und tiefe Seen, bis er auf Erdreich stieß. Da spürte Morgon die geduldige, immer weiter in die Tiefe gehende Bewegung von Baumwurzeln. Sein Bewußtsein erfüllte den Grund des Berges und stieg langsam und unerbittlich aufwärts. Er berührte den Geist blinder Fische, fremder Insekten, die in einer immer gleichbleibenden Welt lebten. Er wurde zum Topas, der in Stein eingeschlossen war; er hing mit dem Kopf nach unten blicklos im Gehirn der Fledermaus. Seine eigene Gestalt hatte sich aufgelöst; sein Fleisch verschmolz mit einer uralten Stille, stieg unaufhörlich aufwärts, schwer von Erz und Edelsteinen. Er konnte sein Herz nicht finden. Als er es in den Steinmassen suchte, erfühlte er den Namen eines anderen, das Herz eines anderen.
Er störte diesen Namen nicht, der in jeden Splitter des Berges eingebunden war. Während Stunden vergingen, die er nicht zählte, durcheilte sein Geist den ganzen Berg, tastete sich stetig durch Schächte, durch Granitgestein, durch Höhlen aufwärts, die in ihrer eigenen Schönheit leuchteten wie Danans geheime Gedanken. Die Stunden wurden zu Tagen, die er nicht zählte. Sein Geist, der auf dem Grund des Berges Isig verwurzelt war, erforschte alle Spalten und Risse im Berg, brach schließlich zum Gipfel durch, der schon mit dem ersten winterlichen Schnee bedeckt war.
Er fühlte die schwere Last des Berges. Sein Bewußtsein umspannte ihn in seiner ganzen Höhe und Masse. In einem winzigen Winkel der Dunkelheit weit unter ihm lag sein Körper wie ein Felssplitter auf dem Grund des Berges. Ihm war, als blickte er auf ihn herunter, nicht wissend, wie er die ungeheuren Massen seines geblähten Geistes wieder in ihn hineinzwängen sollte. Müde schließlich schloß sich ganz einfach eine Art inneres Auge in ihm, und sein Geist schmolz in die Dunkelheit.
Er erwachte unter der Berührung von Händen, die aus der Finsternis kamen, um ihn umzudrehen. Noch ehe er die Augen aufschlug, sagte er: »Ja, ja. Ich habe das Landrecht von Isig gelernt. Es braucht nur einen Gedankensprung, und ich könnte die Landherrschaft an mich reißen. Ist es das, was Ihr als nächstes von mir verlangen werdet?«
»Morgon!«
Er öffnete die Augen. Im ersten Moment glaubte er, die Morgendämmerung wäre in den Berg eingedrungen; die Mauern um ihn herum und Yrths verbrauchtes Gesicht mit den blinden Augen hoben sich schwachleuchtend aus dem Dunkel.
Dann flüsterte er: »Ich kann sehen.«
»Ihr habt einen Berg verschlungen. Könnt Ihr stehen?« Die großen, kräftigen Hände zogen ihn auf die Beine, noch ehe er antworten konnte. »Vielleicht könnt Ihr versuchen, mir ein wenig zu trauen. Ihr habt ja sonst alles versucht. Macht einen Schritt.«
Er wollte sprechen, doch der Geist des Zauberers erfüllte den seinen mit Bildern von einer kleinen Turmkammer, in der ein warmes Feuer loderte. Er trat in das Bild hinein und sah Rendel aufstehen, von Feuer umflossen, als sie auf ihn zukam. Er streckte die Arme nach ihr aus; ihr Weg zu ihm schien endlos, und als er sie endlich berührte, löste sie sich in Feuer auf.
Er erwachte und hörte sie zart auf einer Flöte spielen, die einer der Handwerker ihr geschenkt hatte. Sie brach ab und lächelte, als er sie ansah; doch sie sah matt und blaß aus. Er setzte sich auf und küßte sie.
»Du mußt müde sein, ständig darauf warten zu müssen, daß ich aufwache.«
»Es wäre schön, mit dir zu reden«, gab sie sehnsüchtig zurück. »Entweder schläfst du oder du verschwindest. Yrth war fast den ganzen Tag hier. Ich habe ihm aus alten Zauberbüchern vorgelesen.«