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Und langsam begann er die Ursprünge des Landrechts zu verstehen. Alles Leben war eingebunden in die Gesetze von Schnee und Sonne. Die wilden Winde bestimmten den rasch dahinfliegenden Lauf der Vesta; das grimmige Ungestüm der Jahreszeiten formte das Hirn des Wolfes; die Winternacht sickerte in das Auge des Raben. Je mehr er begriff, desto tiefer begab er sich hinein; er sah den Mond durch die Augen einer Waldohreule, schlich mit einer Wildkatze durch den Farn, wob seine Gedanken in die zartesten Fäden eines Spinnennetzes und in die endlosen, gewundenen Ranken von Efeu, die einen Baumstamm umschlangen. So versunken war er, daß er den Geist einer Vesta berührte, ohne sich darüber zu wundern. Ein wenig später berührte er einen zweiten. Und dann plötzlich traf sein Geist überall auf Vesta, als hätten sie sich aus dem Glanz des Mondlichts geformt, der überall war. Sie flogen über Felder und Wiesen, ein lautloser weißer Sturm, der von allen Seiten kam. Neugierig erforschte er ihre Impulse. Irgend-eine Gefahr, spürte er, hatte sie in die Nacht hinausgetrieben, und er fragte sich, wer oder was es wagen würde, die Vesta in Hars Reich aufzuschrecken. Er drang tiefer ein. Dann schüt-telte er sich von ihnen frei; der Hauch eisiger Luft, den er mit einem raschen, erschrockenen Atemzug einsog, machte seinen Kopf klar.

Es war beinahe Morgen. Was er eben noch für Mondlicht gehalten hatte, war der erste silbergraue Dunst des neuen Tages. Die Vesta waren sehr nahe, eine riesige Herde, die von Har gerufen worden war. Ihr feiner Instinkt zog sie unbeirrbar zu dem Unruhequell, der den König aus dem Schlaf gerissen und die Ruhe seines Geistes gestört hatte.

Morgon stand ganz still, während er verschiedenes überlegte. Er konnte wieder die Krähengestalt annehmen und auf einen Baum flüchten; er konnte die Gestalt der Vesta annehmen; er konnte versuchen, Hars Geist zu erreichen, und hoffen, daß der König nicht zu zornig war, ihn anzuhören. Doch noch ehe er etwas tun konnte, sah er Yrth neben sich stehen.

»Haltet Euch still«, sagte der Zauberer, und Morgon, zornig über seine eigene widerspruchslose Zustimmung, hielt sich an diesen wenig aussichtsreichen Rat.

Schon sah er überall im Dunkel der Bäume das Weiß der Vesta aufblitzen. Sie näherten sich mit unglaublicher Geschwin} digkeit; es war gespenstisch, wie sie alle gemeinsam unbeirrt einem einzigen Punkt im Wald zustrebten. Innerhalb von Sekunden hatten sie sich um ihn gesammelt, ein riesiges weißes Heer. Sie bedrohten ihn nicht; sie standen einfach in einem engen, reglosen Kreis da und blickten ihn aus ihren fremdartigen violetten Augen an. Ihre Hörner bildeten goldene Kreise vor dem Schwarz der Bäume und dem bleichen Grau des Morgenhimmels, so weit sein Auge reichte.

Rendel erwachte. Sie stieß ein schwaches, überraschtes Krächzen aus. Ihr Geist berührte den Morgons; sagte seinen Namen in fragendem Ton. Er wagte es nicht, ihr zu antworten, und danach schwieg sie. Die Sonne ließ eine Wolkenwand im Osten weiß aufleuchten und verschwand. Es begann wieder zu regnen, in schweren Tropfen, die schnurgerade aus einem windstillen Himmel herabfielen.

Eine Stunde später kräuselte Bewegung das schneeweiße Meer von Tieren rundum. Morgon, der bis auf die Haut durchnäßt war und im stillen Yrth und seinen Rat verfluchte, sah es mit Erleichterung. Ein goldenes Geweih schob sich durch die Herde; er sah, wie das Gedränge sich vor ihm öffnete und sich hinter ihm wieder schloß. Er wußte, daß das Har sein mußte. Erwischte sich den Regen mit einem klatschnassen Ärmel aus den Augen und nieste plötzlich. Augenblicklich röhrte die Vesta, die ihm am nächsten stand, wie ein Hirsch und bäumte sich auf. Ein goldener Huf zerfetzte kaum eine Fußspanne von Morgons Gesicht entfernt die Luft. Seine Muskeln erstarrten zu Stein. Die Vesta beruhigte sich, wich zurück, um ihn wiederum aus friedlichen Augen anzublicken.

Morgon erwiderte den Blick mit Unbehagen, während sein Herz immer lauter hämmerte. Der vorderste Kreis öffnete sich wieder, teilte sich, die große Vesta durchzulassen. Sie verwandelte sich. Der Wolfskönig stand vor Morgon. Das Lächeln in seinen Augen verhieß dem, der seinen Schlaf gestört hatte, nichts Gutes.

Das Lächeln erstarb, als Har Morgon erkannte. Er drehte den Kopf und stieß mit scharfer Stimme ein einziges Wort hervor; die Vesta zerschmolzen wie ein Traum. Morgon wartete schweigend und gespannt auf den Richterspruch. Er kam nicht. Der König streckte die Hand aus, schob das feuchte Haar von den Sternen auf Morgons Gesicht weg, als wollte er einen Zweifel beruhigen. DannAsah er Yrth an.

»Ihr hättet ihn warnen sollen.«

»Ich habe geschlafen«, versetzte Yrth.

Har knurrte. »Ich dachte, Ihr schlaft nie.«

Sein Blick wanderte zum Baum hinauf, und seine Züge wurden weich. Er hielt seine Hand hoch. Die Krähe flatterte auf seine Finger nieder, und er setzte sie auf seine Schulter. Erst da rührte sich Morgon. Har sah ihn an, und seine Augen waren von einem blitzenden Eisblau wie die Winde, die über der Einöde durch die Luft fegten.

»Ihr!« sagte er. »Heimlich in meinen Geist einzudringen. Hättet Ihr nicht bis zum Morgen damit warten können?«

»Har.« flüsterte Morgon. Er schüttelte den Kopf, wußte nicht, wo er anfangen sollte. Dann trat er vor, mit gesenktem Kopf in die ausgebreiteten Arme des Wolfskönigs. »Wie könnt Ihr mir so blind vertrauen?« fragte er.

»Gelegentlich kommt es vor«, bekannte Har, »daß ich nicht vernünftig bin.« Er ließ Morgon frei und hielt ihn ein Stück von sich ab, um ihn zu mustern. »Wo hat Rendel Euch gefunden?«

»In der Einöde.«

»Ja, Ihr seht aus wie ein Mann, der diesen tödlichen Winden gelauscht hat. Kommt mit nach Yrye. Eine Vesta kommt schneller vorwärts als eine Krähe, und hier, so tief im Herzen von Osterland, werden ein paar Vesta, die miteinander laufen, nicht auffallen.« Er legte seine Hand leicht auf die Schulter des Zauberers. »Reitet auf meinem Rücken. Oder auf Morgons.«

»Nein«, sagte Morgon heftig, ohne zu überlegen.

Hars Augen wanderten wieder zu ihm hin.

Ehe der König sprechen konnte, erklärte Yrth: »Ich werde in Krähengestalt reiten.« Sein Stimme war müde. »Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich es aus reiner Liebe zur Geschwindigkeit gewagt, blind zu laufen, aber das ist vorbei. Ich werde wohl alt!«

Er wandelte seine Gestalt und flatterte vom Boden zu Hars anderer Schulter hinauf.

Der Wolfskönig stand sinnend da, die Stirn ein wenig gerunzelt, so als lauschte er auf etwas hinter Morgons Schweigen. Doch er sagte nur: »Kommt, machen wir, daß wir aus dem Regen herauskommen.«

Sie liefen den ganzen Tag hindurch bis zum Einbruch der Dämmerung; drei Vesta, die nordwärts flogen, dem Winter entgegen, die eine mit einer Krähe im Ring ihrer Hörner. Bei Einbruch der Nacht erreichten sie Yrye. Als sie keuchend im Hof zum Stehen kamen, öffneten sich die schweren, goldbeschlagenen Eichentüren. Aia erschien, begleitet von Wölfen. Hinter ihr tauchte Nun auf und lächelte ihnen durch eine Rauchwolke entgegen.

Nun umarmte Rendel erst in Vesta-Gestalt und dann noch mal in der eigenen. Aia, der das glatte, elfenbeinweiße Haar offen den Rücken herabhing, musterte Morgon ein wenig entgeistert, dann küßte sie sehr sanft seine Wange. Sie tätschelte Har und Yrth die Schulter und sagte mit ihrer ruhigen, klaren Stimme: »Ich habe alle forgeschickt. Nun sagte mir, wer kommt.«

»Ich hab’ es ihr mitgeteilt«, bemerkte Yrth, noch ehe Har zu fragen brauchte.

Der König lächelte. Sie traten in den leeren Saal. Das Feuer knisterte und prasselte im langen Kamin. Platten mit dampfenden Speisen, heißem Brot, Messingkrüge mit würzigem Wein standen auf einer Tafel vor der Feuerstelle bereit. Sie aßen hastig, mit großem Appetit, kaum daß sie sich gesetzt hatten. Als dann der erste Hunger gestillt war, ließen sie sich mit ihren Weinbechern am Feuer nieder und begannen zu sprechen.

Morgon hockte schläfrig auf einer Bank, den Arm um Rendels Schulter.