Выбрать главу

Und plötzlich verstand ich es. Das Irgendwas war mein Schiff und seine geheime Mannschaft. Ich hatte nicht gewußt, daß ich auf dem Schiff meines Lebens absolute Autorität besitze. Ich entscheide über sein Ziel, seine Regeln, seine Disziplin. Meinen Anweisungen gehorcht jedes Werkzeug, jedes Segel, jede Kanone. Jede einzelne Seele an Bord setzt ihre ganze Kraft für mich ein. Eine ganze Reihe von Fähigkeiten wartet nur darauf, von mir aktiviert zu werden. Und müßten mich diese Seeleute sicher durch den Höllenschlund geleiten — sie würden es ohne Murren tun.

«Warum habt ihr mir nicht gesagt, daß ihr existiert?«fragte ich.»Es gibt noch so viele Dinge, die ich lernen muß. Ich brauche euch. Warum habt ihr mir nicht gesagt, daß ihr immer für mich da seid?«

Ich lag im Gras und lauschte dem Wind.

«Wir haben nichts gesagt, Sir«, kam die Antwort,»weil Sie nicht gefragt haben.«

* * *

Ich öffnete die Augen, eine lange Pause des Schweigens folgte. Dickie saß dicht neben mir, hielt die Augen geschlossen und prägte sich das Schiff ein.

«Was meinst du?«fragte ich ihn.»Philosophie oder nicht, kleiner Junge?«

Er öffnete langsam die Augen.»Ich weiß es nicht«, erwiderte er und sah mich eine Weile an.»Aber von jetzt an nenn mich bitte ›Kapitän‹«.

Ich berührte ihn sanft mit meiner Faust, um klarzumachen, daß dies keine schlechte Idee wäre.

19

Was geht mich das eigentlich alles an, dachte ich und starrte in den Spiegel, ohne wirklich etwas von mir selbst zu sehen; ich rieb mir Rasierwasser Marke Macho ins Gesicht. Medikamente sind der falsche Weg.

Ich bin betäubt von dieser Medizin-Frömmelei, entsetzt von ihren Lehren. Arzneien als Allheilmittel, das ist doch Wahnsinn. Legal oder illegal, mit oder ohne Rezept, über dem Ladentisch oder als Bückware, an irgendeiner Straßenecke teuer erkauft. Jede Pille treibt einen weiteren Keil zwischen uns und unser besseres Ich, das uns der Wahrheit näherbringen könnte. Wir wären besser beraten, einen großen Bogen um diese Wundermittelchen zu machen, wann auch immer und wofür auch immer sie uns Hilfe verheißen. Das sind doch verbrecherische Machenschaften, warum soll man denn Leute unterstützen, die den Körper als Maschine behandeln, anstatt einmal hinter das augenscheinliche Krankheitsbild zu blicken?

Leslie ist gegenteiliger Ansicht. Medizinische Bücher liegen auf ihrem Schoß, wenn sie im Bett ist, und sie kann stundenlang mit großen Augen darin lesen. Nur hin und wieder murmelt sie mißbilligend:»Ernährung! Sport! Wie können sie das nur ignorieren?«Aber alles in allem freut sie sich über den Fortschritt in der medizinischen Wissenschaft.

Soll sie doch lesen, was sie will! Aber ich? Unterstütze ich eine Bande verwirrter, pillengläubiger Weißkittel, die

nicht begreifen, daß eine ganze Menge dieser Krankheiten zivilisationsbedingt ist? Wohl kaum!

In dieser Stimmung zog ich mich für den Wohltätigkeitsball unseres Krankenhauses an.

Ein besonderes Privileg, hatte Leslie sich gedacht. Nach dieser Einladung würden wir endlich über Killerviren und Siechtum Bescheid wissen.

«Laß uns dort hingehen«, hatte ich gesagt, denn ich hatte ansonsten wenig Gelegenheit, meine Frau im Ballkleid zu sehen. Es zerstörte zwar meine Grundsätze, wenn ich auf dem Ball die Mediziner und ihre rückwärts gewandten Ansichten unterstützte. Aber was für ein kleiner Preis für den Anblick von Leslie im Ballkleid.

Ich zwängte mich in mein dunkelstes Jackett, befestigte ein kleines Cessna-Flugzeug-Abzeichen an meinen Rockaufschlag und polierte es mit dem Daumen.

«Kannst du mir einen Moment helfen, Liebling?«rief sie aus dem Badezimmer.»Die Taille ist in Ordnung. Aber entweder ist das Oberteil geschrumpft, oder meine Oberweite ist in der Zwischenzeit größer geworden.«

Ich bin immer froh, wenn ich ihr behilflich sein kann, und eilte ins Badezimmer.

«Vielen Dank«, sagte sie bei meinem Anblick. Dann blickte sie in den Spiegel und zupfte am Ärmel.»Was meinst du? Geht das so, oder nicht?«

Sie hörte ein dumpfes Geräusch hinter sich, eilte mir um eine Minute verzögert zu Hilfe und lehnte mich gegen den Türrahmen. Sie wartete darauf, daß ich Kritik äußerte.

Das Kleid war aus einem weichen, fließenden schwarzen Stoff, das Dekollete so tief wie der seitliche Schlitz am Kleid, und ihr Körper war eine einzige sinnliche Herausforderung.

«Sehr hübsch«, sagte ich verwirrt.»Wirklich reizend.«

Dann nahm ich eine Bürste und kämmte meine Haare vor dem Spiegel hin und her. Aber jeder Versuch, neben ihr auf dem Ball zu bestehen, schien aussichtslos zu sein. Niemand würde glauben, daß wir zusammengehörten, wenn wir den Ballsaal betraten.

Sie studierte sich weiterhin im Spiegel, blickte sich unentwegt und sehr kritisch an und verglich sich wohl mit irgendwelchen Filmgrößen, die Vorbildcharakter haben. Dann drehte sie sich zu mir hin und fragte zweifelnd:»Ist es nicht ein wenig gewagt?«

Ich holte tief Luft.»Solange du das Schlafzimmer nicht verläßt, ist es wirklich angemessen.«

Sie blickte mich im Spiegel mißbilligend an. Wenn Leslie sich für offizielle Anlässe kleidet, kehren sich ihre Werte schnell um, und ihre alte, kompromißlose Hollywood-Vergangenheit kommt wieder zum Vorschein.»Stell dich nicht an, Richie. Sag mir lieber, was du wirklich denkst. Wenn man zuviel sieht, ziehe ich es besser wieder aus…«

Zieh es am besten aus, dachte ich, und wir verbringen die Nacht zu Hause, Leslie. Laß uns gleich ins Nebenzimmer gehen und dort dein tiefausgeschnittenes Hollywood-Kleid bewundern, wie es Stück für Stück und ganz langsam von deinem Körper gleitet. Und laß uns dann vergessen, daß wir heute oder in den nächsten Tagen irgendwo hingehen müssen.

«Es ist gut so«, hörte ich mich zu meiner Überraschung sagen.»Es ist ein nettes, süßes Kleid, das dir sehr gut steht. Und es paßt hervorragend zu dem Ball, auch wenn vielleicht einigen Ärzten die Luft wegbleibt und sie in Ohnmacht fallen.«

Sie blickte mich skeptisch an.»Ich habe es gekauft, bevor wir uns kannten, Richie. Es ist schon über zwanzig Jahre alt. Würde ein weißes Kleid mir heute abend nicht viel besser stehen?«

«Wahrscheinlich besser«, erzählte ich ihrem Spiegelbild.»Und vor allem sicherer. Niemand in dieser Stadt hat in seinem Leben bisher ein so aufregendes Kleid gesehen. «Zwanzig Jahre war es her, daß sie es gekauft hatte, und ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie bezaubert mich noch immer, dachte ich. Auch wenn sie im Alltag ziemlich normal angezogen war, lenkte sie die Blicke auf sich. Aber bei diesem Kleid würden die Männer der Stadt mit Sicherheit wahnsinnig werden.

Ich erinnerte mich an einen Gedanken, den ich aufgeschrieben hatte, bevor wir uns kannten. Ich habe ihn Jahre später in meinen Aufzeichnungen wiedergefunden:»Liebende wachsen oft in das Ideal des anderen hinein, und sie werden mit der Zeit attraktiver. «Dieser Ausspruch war Wirklichkeit geworden: Hier stand Leslie und stimmte ihr Halsband auf das Kleid ab. Die Frau im Spiegel war tatsächlich meine Frau!

Ich starrte sie an und überlegte. Sah sie so toll aus, weil eine subjektive Glocke über Verliebten hängt… egal, wie sie auf die anderen wirken, die Partner finden sich gegenseitig immer schön? Oder geschieht es absichtlich, weil es für jeden von uns beiden wichtig ist, immer gut für den anderen auszusehen?

Wir rauchen nicht und trinken nicht. Keine Drogen, keine Seitensprünge. Kein Fleisch, kein Kaffee, kein Zucker, kein Fett, keine Schokolade, keine Überstunden, kein Streß. Eine gemächliche Gangart, wenig Essen, regelmäßiges Training, viel Arbeit im Garten, häufiges Gleitschirmfliegen, Schwimmen und Yoga und viel frische Luft, frischen Obstsaft, häufig Musik und Lernen und Erzählen und Schlafen. Jeder kämpft um die Zeit für sich selbst, gegen eine Lawine von täglichen Verführungen. Und wir haben nach mehr oder minder vielen Rückfällen tatsächlich gewonnen.