Schokolade ist noch immer mein schlimmster Feind, endlose Arbeitstage der ihre.
«Wenn man soviel aufgibt, verdient man auch eine Belohnung«, sagte ich plötzlich zu ihr.
«Wie bitte?«Es war jetzt höchste Zeit zu gehen. Eine blonde Haarsträhne fiel ihr am Hals auf die linke Seite, und sie beförderte sie geduldig wieder nach rechts. Es war zu spät, um das Kleid zu wechseln. Den Medizinern stand also der Kreislaufzusammenbruch noch bevor. Wie konnte man nur solche Kleider entwerfen, in denen die Formen einer Frau so atemberaubend zur Geltung kamen?
«Mir bleibt einfach die Luft weg«, gestand ich ihr.»Du siehst heute sehr schön aus.«
Sie drehte sich vom Spiegel weg und lächelte mich an.»Du meinst das wirklich so, wie du es sagst. «Sie breitete die Arme aus.»Oh, Richie, vielen Dank. Ich bin manchmal so sehr in meine eigenen Gedanken versunken. Ich möchte doch, daß du stolz auf mich bist, wenn wir zusammen ausgehen.«
Ich umarmte sie. Dann machte ich eine Schleife ihres Kleides zu. Warum ist das äußere Erscheinungsbild so wichtig? Es ist nun einmal so, dachte ich, aber eigentlich ist es unwürdig, wenn der Partner immer schön zu sein hat. Ich verlange das auch, weiß aber selber nicht genau, warum. Liegt darin nicht schon eine ganze Menge Verlogenheit?
Ich habe das für mich akzeptiert. Denn wenn meine Frau und ich nicht für den jeweils anderen schön gewesen wären, hätte dann die Beziehung durch alle Stürme hindurch so lange Zeit gehalten?» Ich kann sie wirklich nicht begreifen«, hatte ich mehr als einmal geflucht.»Hartnäckige, verdammte Perfektionistin. Wenn du nicht so schön wärst, ich schwöre es, hätte ich dich schon längst verlassen.«
Andererseits gab es in meiner Vergangenheit viele schöne Frauen, die ich ohne Zögern verlassen habe, wenn wir uns gegenseitig überdrüssig geworden waren. Es gibt schöne Frauen, deren Faszination im Laufe der Zeit nachläßt, und andere wiederum, deren Seele im ersten Moment als das Schöne an ihnen hervorsticht, werden im Laufe der Beziehung und der Jahre rein äußerlich immer schöner.
War es so mit Leslie und mir? Sie drehte sich jetzt vom Spiegel weg, schlang sich eine schwarze Seidenstola um den Hals, nahm ihre Handtasche und sagte dann:»Ich bin fertig.«
«Dann laß uns gehen«, sagte ich zufrieden.
Sie blickte mich einen Moment lang nachdenklich an und fragte dann plötzlich:»Liebst du mich?«
«Ja«, erwiderte ich nur.
«Und warum?«
«Weil du liebenswert bist, warmherzig, witzig, tiefgründig, freundlich, wißbegierig, sinnlich, intelligent, kreativ, ruhig, vielseitig, frei, offen, kontaktfreudig, verantwortungsbewußt, faszinierend, praktisch, bezaubernd, schön, positiv, talentiert, sprachbegabt, ordentlich, einsichtig, geheimnisvoll, wandlungsfähig, neugierig, fröhlich, unberechenbar, machtvoll, entschlossen, abenteuerlustig, ernsthaft, aufrichtig, furchtlos und weise.«
«Mein Gott«, erwiderte sie.»Das kann ich aber nicht alles gleichzeitig sein.«
20
Als wir eintraten, fühlte ich mich wie der verkleidete Robin Hood, und der Ballsaal ähnelte aufs Haar dem in Nottingham. Menschen nickten uns zu, lachten und strahlten und tranken Sekt aus langstieligen Kristallgläsern. Gefangen, dachte ich. Ausgerechnet ich, ein Gegner jeglicher Arzneimittel, inmitten von Ärzten aller Fachrichtungen. Ich bin verloren, sobald sie anfangen, auf das segensreiche Aspirin anzustoßen; sie werden mich dabei ertappen, daß ich meine Tablette in den Palmenkübel fallen lasse, es wird ein lautes Geschrei geben, man wird mit den Fingern auf mich zeigen.
Das Treppenhaus, dachte ich, wird meine Rettung sein. Ich werde die Stufen hinaufstürzen, mich an die Vorhänge klammern und mich durch die großen Glastüren schwingen, bis die Splitter nur so durch die Gegend fliegen, dann über die Balkonbrüstung auf den Sims springen, an den Wasserspeiern bis zum Dachfirst hinaufklettern und in der dunklen Nacht verschwinden.
Ich bin ein selbsternannter Aussteiger, ein Flieger, der davon gelebt hat, daß er auf den Weiden des Mittleren Westens Flüge mit einem Doppeldecker organisierte, ein Bankrotteur, der sich von der untersten sozialen Schicht mühsam wieder hochgearbeitet hat… Was hatte ich mit all diesen Klugscheißern hier gemein? Das Leben hat mich gelehrt, daß alle Arzneimittel des Teufels sind, und jetzt befinde ich mich auf einem Medizinerball. Wahrscheinlich, um auf meine Frau aufzupassen, dachte ich.
Leslies Augen funkelten vor Freude, als ich ihr die Seidenstola abnahm.
Ich ergriff ihre Hand, wartete einen Augenblick am Rande der Tanzfläche, und dann schwebten wir nach den mitreißenden Walzerklängen von Johann Strauß graziös übers Parkett. Ich kann nicht sagen, welchen Eindruck wir hinterließen, aber mir war es, als ob wir im Einklang mit der Musik über endlose Weizenfelder flögen.
«Man sollte meinen, die Ärzte müßten mittlerweile von der Anatomie des menschlichen Körpers genug haben«, sagte ich mitten in einer eleganten Drehung.
«Ja, und?«fragte sie herablassend. Ihr Haar bewegte sich im Wirbel des Tanzes.
«Seitdem du den Saal betreten hast, starren dich alle Männer an.«
«Dummkopf«, erwiderte sie, obwohl ich doch recht hatte.
Wie einfach war doch das Leben gewesen, bevor ich tanzen gelernt hatte! Rein theoretisch kann natürlich jeder tanzen, und dieses theoretische Können hätte mir auch vollauf genügt!
Aber wer nicht richtig tanzen kann, spürt auch nicht die Heiterkeit der Musik, die den Körper beim Tanzen erfüllt. Um diese Fähigkeit zu erlangen, hätte ich mich dazu aufraffen müssen, eine Tanzschule zu besuchen. In irgendeinem mit Spiegeln ausstaffierten Übungssaal wäre ich wie ein Narr herumgestolpert und hätte im Laufe der Tortur tanzen gelernt. Ein unerträglicher Gedanke. Ich eröffnete meiner Frau, daß ich in meinem Alter keinerlei Lust verspürte, noch einmal den ungeschickten Anfänger zu mimen.
Leslie wollte das nicht einsehen und nahm ohne mich Tanzstunden. Wenn sie dann spät nach Hause kam, hatte sie derart gute Laune, daß ich mich fragte, was denn am Tanzen so amüsant sein konnte.
Sie zeigte mir ein oder zwei Schritte, und nach kurzer Zeit lag mir weniger an würdevoller Sicherheit als daran, mit ihr tanzen zu lernen.
Meine Befürchtungen bewahrheiteten sich natürlich. Wochenlang kam ich mir vor wie die Kreatur aus Frankensteins Kellergewölbe. Elektroden im Gehirn wären weniger aufgefallen als meine gräßlichen Schuhe, denen meine behende Tanzlehrerin ständig ausweichen mußte. Ich warf aber die Flinte nicht ins Korn, und über kurz oder lang…
Nun gab ich mich unbeschwert der Musik hin und sah im ganzen Saal niemanden außer Leslie. Ich danke dir, tapferer Richard, dafür, daß du dich überwunden und nicht länger großmütig auf das Tanzen verzichtet hast. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel, und meine Frau empfand wohl das gleiche.
«Als du ein kleiner Junge warst, Richie, hast du da nicht manchmal gedacht, du seist von weither von den Sternen auf die Erde gekommen?«
«Hm, ich wußte es«, erwiderte ich und dachte an meine selbstgebauten Teleskope. Auf der Suche nach meinem Zuhause hatte ich durch ihre Linsen geschaut wie ein Astronaut durch die Fenster seines Raumschiffs.
«Ich wußte es auch«, sagte sie.»Nicht von einem Planeten, der existiert. Einfach von dort draußen.«
Ich nickte und wich anderen Paaren aus, indem ich rückwärts tanzend von linken Drehungen zu rechten wechselte.
«Wenn mich irgendwer gebeten hätte, ihm den Weg nach Hause zu zeigen«, bemerkte ich,»hätte ich mit dem Finger nach oben gedeutet, und bis vor gar nicht allzulanger Zeit hätte ich den Grund dafür nicht gewußt.«