«Nein. Die bedingungslose Liebe gleicht als Kraft in der Raumzeit etwa der beim Schachspiel oder beim Fußball oder beim Eishockey. Regeln bestimmen Spiele, und eine bedingungslose Liebe erkennt keine Regeln an.«
«Nenne mir bitte eine Regel«, sagte er.
«Laß uns mal sehen…«Als ich mit der linken Seite des Höhenleitwerks fertig war, stellte ich die Leiter an die rechte, kletterte hinauf und sprühte Wachs auf die Vorderkante.»Selbsterhaltung ist eine Regel. In dem Moment, wo es uns nicht mehr interessiert, ob wir leben oder sterben, und wir unsere Werte aus der Raumzeit hinausbefördern, können wir plötzlich bedingungslos lieben.«
«Wirklich?«
«Versuch es«, sagte ich, während ich die Vorderkante wachste und polierte.
«Wie?«
Das Höhenleitwerk funkelte. Seine beiden Seiten wirkten im Hangar wie zwei identische Skulpturen aus Elfenbein. Ich widmete mich nun dem Seitenleitwerk.
«Nehmen wir an, du seist eine fortschrittliche Seele, ein friedlicher, pazifistischer Führer, der geschworen hat, sein versklavtes Volk von einem Tyrannen zu befreien. Du drohst dem Tyrannen, solange zu riesigen Protestdemonstrationen in der Hauptstadt aufzurufen, bis er sich zurückzieht.«
«Werde ich ihm das denn sagen? Ich mag dann zwar fortschrittlich sein, aber ich handle damit bestimmt nicht allzu klug, oder?«fragte Dickie.
Ich lächelte. Mein Vater pflegte zu sagen: nicht allzu klug.
«Du bist gewarnt«, sagte ich.»Die Häscher des Tyrannen sind schon unterwegs, sie kommen, um dich zu töten. Hast du Angst?«
«Ja!«antwortete Dickie.»Wohin flüchte ich?«
«Nirgendwohin. Du bist eine fortschrittliche Seele, erinnere dich. Daher mußt du von dieser Minute an die Selbsterhaltung sein lassen, alle Regeln vergessen und aufhören, dir um Leben oder Sterben Gedanken zu machen. Dies ist eine Welt der Erscheinungen, und du hast eine andere Heimat, die du viel besser kennst und viel inniger liebst als die Erde, ein Zuhause, zu dem du gern zurückkehren wirst.«
Ich polierte um Dickie herum, während er mit geschlossenen Augen hoch oben auf dem Leitwerk saß.
«Schön, «sagte er,»ich habe aufgehört, mir Gedanken zu machen, ich wünsche mir nichts, ich brauche nichts von der Erde. Ich bin bereit, nach Hause zurückzukehren.«
«Die Attentäter stehen vor deiner Tür. Hast du Angst?«
«Nein«, sagte er.»Sie sind nicht meine Mörder, sie sind meine Freunde. Wir sind handelnde Personen in einem Stück. Wir wählen unsere Rolle und spielen sie.«
«Sie ziehen ihre Schwerter. Hast du Angst vor ihnen?«
«Ich liebe sie«, erwiderte er.
«Na! Nun weißt du, was bedingungslose Liebe ist. Du mußt kein Heiliger sein, jeder kann lieben; pfeife auf die Raumzeit, und es spielt keine Rolle, ob sie dich töten oder nicht.«
Dickie öffnete die Augen und rutschte zum Ende des Leitwerks, damit ich die Stelle polieren konnte, auf der er eben noch gesessen hatte.
«Interessant. Funktioniert es auch anders herum? Empfinde ich weniger bedingungslose Liebe, wenn ich mir mehr Gedanken um meinen Selbsterhaltungstrieb mache?«
«Möchtest du das herausfinden?«
«Ja. «Er schloß seine Augen und wartete.
«Nimm an, du bist ein friedfertiger, ruhiger Farmer«, sagte ich.»Du liebst drei Dinge: deine Familie, dein Land und deine Narzissenfelder. Du und deine Frau, ihr zieht eure Kinder groß und züchtet eure Blumen in jenem Tal, das einst von deinen Eltern urbar gemacht und gepflügt worden ist. Du wurdest auf diesem Stück Land geboren, und hier hast du vor zu sterben.«
«Hu!«rief er.»Etwas wird passieren.«
«Ja. Viehtreiber, Dickie. Sie wollen deine Farm haben, damit für das Vieh der Weg zum Kopfbahnhof kürzer ist, und du hast sie ihnen nicht verkauft, als sie dich darum gebeten haben. Sie haben dir Zoff angedroht, und du bist nicht geflüchtet. Nun haben sie dir eine Frist gesetzt: Heute mittag nehmen sie deine Farm gewaltsam in Besitz. Verlasse dein Land und deine Blumen, oder du wirst auch umkommen.«
«O mein Gott«, sagte er mit geschlossenen Augen und träumte weiter.
«Hast du Angst?«
«Ja.«
«Es ist beinahe Mittag, Dickie. Sie kommen jetzt auf ihren Pferden angaloppiert… ein Dutzend bewaffneter Männer in einer Staubwolke. Sie feuern ihre Revolver ab und jagen eine Herde von Langhorns auf deine grünen Felder zu. Liebst du diese Männer bedingungslos?«
«nein!«antwortete er.
«Du siehst also…«
«Ich habe meine Nachbarn an verschiedenen Stellen postiert. Jeder von uns hat ein Repetiergewehr; ich habe Dynamit entlang der Zäune vergraben. Sobald ihr verfluchten Rowdys einen Fuß auf meine Felder setzt, werdet ihr euer blaues Wunder erleben! Ihr wollt uns zertrampeln, es wird das letzte Mal sein, daß ihr das versucht!«
«Es funkt bei dir«, sagte ich und lächelte über seine rasche Reaktion.»Du siehst, wie sehr sich dies von der unkonventionellen…«
«Unterbrich mich bitte jetzt nicht«, sagte er.»Ich will sie in die Luft sprengen!«
Ich lachte.»Dickie, das ist ein Gedankenexperiment, kein Massaker!«
«Er öffnete die Augen. »Wumm…«schrie er.»Niemand nimmt mir mein Land weg!«
Ich feixte über seine finstere Miene, hob ihn auf den Flugzeugrumpf und schob die Leiter weiter, damit ich anfangen konnte, Daisys rechten Tragflügel zu polieren.
«Wenn die Liebe also bedingungslos sein soll, besteht die einzige Möglichkeit für sie darin, sich nicht um unsere Spiele zu scheren«, sagte er schließlich.
«Nicht um Spiele und änderungsbedingte Ziele«, sagte ich.»Nicht um Selbsterhaltung, Gerechtigkeit, Rettung, Moralprinzipien, Vervollkommnung, Erziehung oder Fortschritt. Sie liebt den, der wir sind, nicht den, der wir zu sein vorgeben. Daher ist Sterben ein solcher Schock, denke ich. Gerade dann ist der Gegensatz zwischen der Rolle und dem Realen am krassesten. Überlebende, die dem Tod nahe waren und zurückkehren, sagen, die Liebe sei wie ein Schmiedehammer.«
«Für Viehtreiber ebenso wie für Blumenzüchter?«
«Der Getötete und die Killer, der Lammfromme und die Ungeheuer. Die gleiche, absolute, totale, bedingungslose Liebe.«
Dickie legte sich auf den Flugzeugrumpf, schmiegte sein Gesicht an das kühle Metall und sah mir bei der Arbeit zu.»Alle diese Dinge, von denen du mir erzählst… woher weißt du die denn?«
«Ich dachte, du wüßtest das«, erwiderte ich.»Solange ich mich erinnern kann, hat es mich interessiert: »Wie funktioniert das Universum? Wann hat es angefangen?«
Ich rechnete damit, daß er meinem Gedächtnis nachhelfen würde, doch selbst wenn er wirklich wußte, woher meine Neugier rührte — er verriet mir nichts.
«Woher weißt du, daß du mit deinen Antworten recht hast?«fragte er.
«Ich weiß es nicht. Aber jede Frage erzeugt in mir eine Spannung, ich bekomme einen kleinen elektrischen Schlag, und es knistert so lange in mir, bis eine Antwort gefunden ist. Dann zuckt ein blauer Blitz auf, und die Spannung ist weg. Eine innere Stimme sagt nicht: richtig oder falsch. Sie sagt einfach: ›Die Frage ist beantwortete«
Verdammt, dachte ich im stillen, da ist ein Delle in der Vorderkante…
«Nenne mir ein Beispiel«, sagte er.
Ich klopfte leicht auf die Tragfläche und erinnerte mich:
«Als ich auf dem Lande herumvagabundierte und von den Weiden des Mittleren Westens aus mit meinem alten Fleet-Doppeldecker kurze Ausflüge unternahm, fühlte ich mich eine Zeitlang schuldig. Durfte ich dieses Leben führen, durfte ich frei durch die Lüfte fliegen und davon auch noch leben, während andere von neun bis fünf arbeiteten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Nicht jeder kann ein Vagabund sein, dachte ich.«
«War das deine Frage?«
«Das war es, was mich wochenlang in Spannung hielt: Nicht jeder kann ein Vagabund sein. Weshalb lebe ich nicht wie alle anderen unter Streß? Geziemt es sich für mich, so privilegiert zu sein?«