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Du schaffst dir deine eigene Realität, um sicherzugehen, daß du eine glückliche Wirklichkeit gestaltest. Bring deinen Mitmenschen gegenüber Opfer, und sie werden nett zu dir sein.

Ich war überrascht, wie schwer es war, ein Buch in zwei Teile zu zerreißen. Als ich es geschafft hatte, hielt ich eine der zerstörten Hälften Shepherd vors Gesicht. »Du schaffst dir deine eigene Realität? Und sie werden nett zu dir sein? Ich kann mir nicht vorstellen, daß du so verrückt bist, das zu glauben, oder so verrückt, daß du meinst, ich glaube so einen Quatsch. Auf jeden Fall bist du so vermessen, solche Plattheiten in ein Buch für ein unschuldiges Kind zu packen — für Dickie. Und der soll das auch noch lesen. Wirklichkeit ist das, was er mit seinen Augen sieht? Für welchen diabolischen Geist arbeitest du?«

Ich brach ab, weil ich nicht mehr lauter werden konnte, und ich spürte, wie meine Hand zitterte, mit der ich die Seiten des Buches vor seine Nase hielt.

«Man darf es nicht so wörtlich nehmen«, erwiderte er nervös.»Ich kann den Inhalt noch ändern, wenn du möchtest…«

«Shepherd, der kleine Junge hat einen Traum. Er hat eine große Idee, um das Leben zu finden, das er leben möchte, damit er nicht die Hälfte eines Jahrhunderts damit verbringt, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten. Du nimmst ihm einfach seinen Traum weg und lenkst seine Gedanken auf die Nützlichkeit der Erwerbstätigkeit? Und dann behauptest du auch noch, dieser Quatsch sei von wir?«

«Du hast es versprochen«, beharrte er störrisch, und seine Stimme triefte vor Rechtschaffenheit.»Aber du hast dich nicht genügend darum gekümmert, dieses Buch zu schreiben. Ich wollte dir die Sache nur erleichtern.«

Ich wurde von einer Zorneswelle hinweggespült und erkannte die Zeichen am Ufer: ›Vorsicht, Stromschnellen!‹ Welche Stromschnellen? Hätte ich noch wütender werden können, als ich es in dieser Minute schon war? Sollte ich diese Kreatur nicht sofort mit bloßen Händen erwürgen?

Ich beruhigte mich wieder ein wenig, und meine Stimme wurde sehr leise:»Shepherd, du bist mündig genug, um das zu tun, was immer du tun möchtest. Aber wenn du einem unschuldigen Kind einen solch faden Brei vorsetzt, als das geistige Werk eines halben Jahrhunderts ausgibst und obendrein noch meinen Namen auf diesen Unsinn schreibst…«An dieser Stelle haben meine Augäpfel bestimmt geglüht wie feurige Kohlen.»… dann werde ich dich in die Hölle schicken und dich Seite um Seite mit diesem Buch ausstopfen.«

Meine Drohung hat er bestimmt nicht wörtlich genommen, aber von meiner Wut schien er beeindruckt zu sein.

«Ich habe verstanden«, sagte er nur.»Und ich bin froh, daß du dir deswegen Sorgen machst.«

Das ist das Schöne an Engeln — sie sehen immer nur die freundlichen Seiten des Daseins.

4

Ich nahm mein Gepäck und stapfte kopfschüttelnd von dem Wagen weg. Wieder eine Lektion gelernt, dachte ich. Bloß, weil irgend jemand aus einer anderen Dimension in dein Leben tappt, Richard, brauchst du nicht anzunehmen, daß er deswegen in jeder Hinsicht der Klügere ist oder alles besser machen kann. Sterblich oder unsterblich — das Wesen einer Person macht aus, was sie gelernt hat.

Ich entfaltete den Flügel meines Drachens auf dem Berggipfel für den Start und schimpfte über hirnlose Engel, die sich in meine Vergangenheit einmischten. Als ich wieder hochblickte, waren der alte Ford und sein seltsamer Fahrer verschwunden.

Ich betete darum, daß Shepherd sich einem Engel gemäß zurückgezogen und nicht versucht hatte, den steilen und kurvenreichen Weg hinunterzufahren. Wenn er wirklich die Straße genommen hatte, würde ich ihn bei der nächsten Fahrt bestimmt abseits des Weges in irgendwelchen Baumwipfeln wiederfinden.

Die Gurte waren fest, Handschuhe hatte ich an, Schnallen und Helm waren überprüft und gesichert. Die anderen waren schon längst in den Lüften auf und davon und drei von ihnen in der Zwischenzeit schon wieder gelandet. Drei Flieger schwebten noch hoch oben, Schmetterlinge über dem Grün, die dem Aufwind nachjagten.

Die Brise fehlte, um das Gleitsegel vor dem Start in den Wind zu stellen. Ich rannte auf den Abgrund zu, blickte

prüfend zu dem großen Regenbogen über meinem Kopf hin, und dann lief ich weiter in die blaue Luft hinein.

Dickie würde bestimmt liebend gern mit mir fliegen, dann könnte er begreifen, was wirklich wichtig im Leben war. Man strebt nach einer Leidenschaft, die einen ausfüllt. Ich lasse mein Bedürfnis nach Sicherheit links liegen, verliere die Erdenschwere und werfe mich der Luft in die Arme. Man vertraut ganz der Aerodynamik, den Aufwinden, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben.

In diesem Moment eine Denkpause — den Schirm hatte ein Luftstrom erfaßt, und ich zog den rechten Griff herunter und drehte ein wenig, um in diesem Lüftchen zu verweilen. Der Regenbogen und ich hoben uns weich dem Himmel entgegen.

Über die Hügel im Westen erhob sich die ferne Skyline von Seattle, ein leuchtender Smaragd im Sonnenlicht, und darüber die olympischen Berge unter Hüten von Schnee. Es hätte in diesem Moment für Dickie eine Menge zu sehen gegeben.

Ein Falter tauchte rechts neben mir auf, schlug heftig mit den Flügeln und flog genauso schnell wie ich. Ich drehte mich zu ihm hin, und er flatterte weg, kehrte nach einem Moment wieder zurück, umschwirrte kurz meinen Helm und verschwand dann in südlicher Richtung.

Waren es diese Dinge, die Dickie hätte wissen sollen? Er, der Schmetterlinge und Falter liebte und alles, was so in der Luft herumschwirrte? Wäre es wirklich interessant für ihn gewesen, daß der Falter in einer Höhe von zweitausend Fuß nach Süden geflogen war?

Schließlich, so dachte ich, lebte das Kind, das ich einst gewesen, nicht in Shepherds Gedankenwelt, sondern in meiner eigenen. So wenig ich mich an meine Kindheit erinnerte, Dickie wußte alles. Wenn ich einen Weg fände, um ihn zu erreichen, würde ich viel von ihm lernen, und ich könnte ihn lehren, Irrtümer zu vermeiden.

Der Aufwind erstarb, in wenigen Minuten würde Seattle wieder einmal hinter den Hügeln untertauchen. Der erste der Flieger, der vorhin gelandet war, stand schon wieder am Startplatz und beobachtete mich tief unter ihm, wie ich immer weiter nach unten glitt.

Wenn ich hier, ganz entspannt in den Lüften, die Tür zwischen mir und dem Kind, das ich einst gewesen, öffnete — was würde dann geschehen? Es ist schon so lange her, daß ich mir Gedanken um diesen Burschen gemacht habe. Waren es Shepherd und sein Lügenbuch, die mich jetzt ins Grübeln brachten?

Ich stellte mir in meiner Phantasie eine gutgesicherte Falltür zwischen mir und den Tiefen meiner Vergangenheit vor. Ich hob den schweren Holzverschlag und wuchtete ihn beiseite. Da unten herrschte tiefe Dunkelheit, und es war kalt, was mich überraschte. Vielleicht schlief er?

«Dickie!«rief ich in mein Unterbewußtsein hinein.»Ich bin es, Richard. Es ist fast fünfzig Jahre her, seit wir uns gesehen haben, und ich wollte dir nur mal Guten Tag sagen.«

Er lauerte im Halbdunkel, einen Flammenwerfer auf mich gerichtet. Sekunden später hatte sich der Ort in ein Flammenmeer verwandelt.»Hau ab!«schrie er, rasend vor Wut. »Hau ab, du jämmerlicher und egoistischer Erwachsener, ich will mit dir nichts zu tun haben! Ich will nicht so werden wie du! Hau ab, und komm nie mehr zurück! Laß mich gefälligst allein!«

Ich schnappte nach Luft, zuckte zurück und warf schnell die Tür zu Dickie wieder zu. Ich legte mich in die Gurte und schwang mich weiter in die Lüfte, tief unter mir die Bäume auf dem Tiger Mountain.