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Aber Scipio lief schon den dunklen Flur hinunter. Mit klopfendem Herzen rannte Prosper ihm nach. Als Scipio in den Kinosaal stolperte, starrten die anderen ihn an wie einen Fremden. »Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Mosca entgeistert. »Bist du in einen Kanal gefallen? Und was hast du für piekfeine Sachen an?« »Ich hab jetzt keine Zeit, euch was zu erklären!«, schrie Scipio. Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Der Schnüffler weiß, dass ihr hier seid. Klemmt euch die wichtigsten Sachen unter den Arm und dann machen wir, dass wir wegkommen.« Entsetzt guckten die anderen ihn an. »Starrt mich nicht so an!«, brüllte Scipio. Noch nie hatten sie ihn so aufgebracht erlebt. »Der Kerl wird gleich durch die Vordertür spazieren, klar? Vielleicht können wir irgendwann wiederkommen, aber bitte, jetzt müsst ihr hier weg!« Keiner rührte sich. Riccio musterte Scipio mit offenem Mund. Mosca runzelte ungläubig die Stirn, und Wespe hatte den Arm um den verschreckten Bo gelegt.

Prosper regte sich als Erster. »Schnapp dir deine Katzen, Bo«, sagte er. »Und zieh dir die Regenjacke an. Es schüttet draußen.« Mit ein paar Schritten war er bei der Matratze, auf der Bo und er schliefen, und stopfte das bisschen, was sie besaßen, in eine Tasche. Da regten sich auch die anderen.

»Wo sollen wir denn hin?«, rief Riccio verzweifelt. »Ihr habt doch gehört, es regnet. Und es ist so kalt. Ich verstehe das alles nicht. Wie hat der Schnüffler uns gefunden?«

»Riccio, sei ruhig!«, fuhr Wespe ihn an. »Lass mich nachdenken.« Sie nahm den Arm von Bos Schultern und drehte sich zu Mosca um. »Setz dich vorn an den Kartenschalter und sag Bescheid, sobald du irgendwas Verdächtiges vor dem Eingang hörst. Das Gerümpel, mit dem wir die Tür verrammelt haben, wird ihn etwas aufhalten, aber nicht allzu lange, fürchte ich.«

»Bin schon weg.« Mosca steckte die Grundrisszeichnung eilig in den Hosenbund und verschwand durch die große Flügeltür. »Ich hol das Geld, das noch da ist«, murmelte Scipio, ohne jemanden anzusehen, und lief Mosca hinterher.

Bo setzte wortlos die verschlafenen Kätzchen in ihren Karton. Als er sah, dass Riccio zusammengesunken auf seiner Matratze hockte und schluchzte, trat er verlegen zu ihm und streichelte ihm den struppigen Kopf.

»Wo sollen wir denn hin?«, schluchzte Riccio immer wieder. »Wo sollen wir denn hin, verdammt noch mal?« Wespe musste sich ständig die Tränen vom Gesicht wischen, während sie ihre Lieblingsbücher in eine Plastiktüte stopfte. Aber plötzlich hielt sie inne.

»Wartet mal!«, sagte sie und drehte sich zu den anderen um. »Ich hab da gerade eine verrückte Idee. Wollt ihr sie hören oder soll ich besser den Mund halten?«

In der Falle

Victor hätte nicht geglaubt, dass er noch so schnell rennen konnte. Zum Glück wusste er, wo die Calle del Paradiso lag, und hatte sie nicht erst noch auf dem Stadtplan suchen müssen, aber Scipio hatte trotzdem einen gehörigen Vorsprung.

Und ich wette, der wird mit jedem Meter größer, dachte Victor, während er keuchend die Gassen entlangstürmte. Gott, was gäbe ich jetzt für meine schnellen Kinderbeine! Er hatte das Gefühl, mindestens hundert Brücken überquert zu haben, als er endlich mit zitternden Knien in die Gasse einbog, in der Dottor Massimos Kino lag. Da waren sie, die großen Leuchtbuchstaben, von dem einen L fehlte ein Stück, aber der Name war noch deutlich zu lesen: STELLA. Ein verblichenes Filmplakat hing in einem Ausstellkasten. In den Schmutz auf der Scheibe hatte jemand ein Herz gemalt.

Schwer atmend stieg Victor die zwei Stufen zur Eingangstür hoch. Er versuchte durch die Scheibe zu schielen, aber sie war von innen mit Pappe vernagelt. Die Vögel sind sowieso längst ausgeflogen, dachte Victor, während sein Herz immer noch viel zu schnell pochte. Ihr Anführer hat sie bestimmt längst gewarnt. Wie passte der Sohn des reichen Dottor Massimo mit den anderen zusammen? Seine Bärtesammlung hätte

Victor darauf verwettet, dass sie alle Ausreißer waren: der magere kleine Igelkopf mit den schlechten Zähnen, der große Schwarze, dem die Hosen zu kurz waren, und das Mädchen mit dem traurigen Mund. Ausreißer, wie die beiden Brüder, die Victor suchte. Was hatten sie mit Dottor Massimos Sprössling zu schaffen?

»Egal!«, brummte Victor, stellte den Karton mit der Schildkröte neben der Tür ab und zog einen Schlüsselbund mit Dietrichen aus der Tasche. Das Vorhängeschloss hatte er schnell geöffnet, aber das Türschloss bereitete ihm ziemliche Schwierigkeiten. Und als es endlich aufsprang, musste Victor feststellen, dass die Tür mit Bergen von Gerümpel verbarrikadiert war. Er fluchte so laut, dass im Haus gegenüber ein Fenster aufging und ein alter Mann besorgt den Kopf raussteckte.

»Buona sera!«, rief Victor. »Va tutto bene, signore. Soltanto... ehm, soltanto una revisione.«

Der alte Mann brummte etwas Unverständliches und knallte sein Fenster wieder zu.

Das dauert Stunden, bis ich da durch bin, dachte Victor und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Nach fünf Versuchen schmerzte seine Schulter, aber die Tür klaffte so weit, dass er sich hindurchzwängen konnte. Im spärlichen Schein seiner Taschenlampe bahnte er sich einen Weg durch das verstreute Gerümpel, stieg über umgekippte Stühle, Obstkisten und zerbrochene Stellwände. Es war stockfinster hinter der zugenagelten Tür und Victor blieb vor Schreck fast das Herz stehen, als er gegen einen Pappkerl lief, der neben der verstaubten Kasse stand und ihm ein Maschinengewehr unter die Nase hielt. Mit einem leisen Fluch schubste er ihn zur Seite und schlich auf die Doppeltür zu, hinter der der Kinosaal liegen musste. Vorsichtig öffnete er sie und lauschte in die Dunkelheit. Kein Laut, sosehr er auch die Ohren spitzte. Nur seinen eigenen Atem hörte er, er keuchte immer noch von der endlosen Rennerei. Natürlich!, dachte Victor. Wie ich es mir dachte. Alle ausgeflogen. Zögernd machte er ein paar Schritte in den stockfinsteren Saal hinein. Und glaubte, ein Rascheln zu hören. Ganz leise nur. Wahrscheinlich Mäuse, dachte er und schauderte. Victor mochte Mäuse, aber nicht, wenn sie unsichtbar in der Dunkelheit herumraschelten. Langsam ließ er den Lichtkegel seiner Taschenlampe umherwandern. Sitzreihen. Ein Vorhang. Tatsächlich, ein richtiges Kino. Neugierig leuchtete er mit der Taschenlampe an den Wänden entlang. Da flatterte plötzlich etwas auf ihn zu, weißgrau, Flügel streiften sein Gesicht. Mit einem Aufschrei ließ er die Taschenlampe fallen, tastete hektisch in der Dunkelheit nach ihr und richtete den Strahl auf das, was da ziellos umherflatterte. eine Taube! Eine gottverdammte Taube. Victor fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als könnte er den Schreck fortwischen. Der Vogel schien genauso erleichtert, beruhigt ließ er sich auf einem Korb nieder, der an der Wand baumelte.

Noch so eine Überraschung, dachte Victor, und mein armes Herz macht das nicht mehr mit. Er atmete noch einmal tief durch und ging weiter. Dieser große, finstere Saal war wirklich ein seltsames Versteck für ein paar heimatlose Kinder. Ja, es gab keine andere Erklärung. Der junge Massimo musste sie hier untergebracht haben, im leeren Kino seines Vaters. Der Vorhang vor der Leinwand glitzerte, als Victor ihn anleuchtete. Was, wenn sie sich irgendwo versteckt hatten? Er machte noch einen Schritt und stieß mit der Schuhspitze gegen eine Matratze. Ein ganzes Matratzenlager war hinter den Sitzen auf dem Boden aufgebaut: Decken, Kissen, Bücher und Comichefte, sogar einen kleinen Kocher entdeckte Victor.

Donnerwetter. Der Kleine hat keine Märchen erzählt!, dachte er. Es ist, wie Bo gesagt hat: Er wohnt in einem Kino, mit seinem großen Bruder und seinen Freunden. Kindervorstellung. Kein Einlass für Erwachsene.