Riccio stand da wie jemand, den man verprügelt hatte. »Er war da? Du - hast ihn gesehen?«, fragte er.
Prosper nickte. »Ja, er war da. Aber er war zu feige rauszukommen.« Bo schob den Kopf unter Wespes Arm. Die anderen sagten kein Wort. Wespe blickte hinüber zur Casa Massimo, wie sie dastand und sich im Kanalwasser spiegelte. Hinter einigen Fenstern brannte Licht, obwohl es noch früh am Nachmittag war. Es war ein düsterer, grauer Tag. »Ist doch nicht so schlimm, Prop«, sagte Bo und sah seinen großen Bruder besorgt an. »Ist doch nicht so schlimm.«
»Lasst uns nach Hause gehen«, murmelte Wespe. Und das taten sie. Den ganzen Rückweg sprach keiner von ihnen ein Wort.
Ein Ehrenwort
Es war nicht schwer für Victor, das Schloss seines Gefängnisses zu knacken. Den Werkzeugkasten hatte Mosca ihm abgenommen, bevor die Kinder verschwunden waren, aber Victor hatte für Notfälle immer etwas Draht und andere nützliche Kleinigkeiten in seiner doppelten Schuhsohle versteckt. Er stand schon im Vorraum, den Karton mit den Schildkröten unter dem Arm, als er beschloss, nicht ohne ein paar Abschiedssätze zu gehen. Weil er kein Papier fand, schrieb er seine Nachricht mit einem Filzer auf die weiß getünchte Wand:
Achtung, dies ist ein Victor-Ehrenwort, und wie ich euch schon sagte, Victor-Ehrenworte werden nie gebrochen: Die Hartliebs werden von mir nichts erfahren - es sei denn, ich höre in nächster Zeit von irgendwelchen seltsamen Einbrüchen. Wir sehen uns. Bestimmt.
Victor
Als Victor fertig war, trat er einen Schritt zurück und betrachtete, was er geschrieben hatte. Ich muss verrückt geworden sein, dachte er, als er die eigenen Worte noch einmal las. Dann überlegte er, ob er noch nach der Pistole suchen sollte, die Prosper ihm abgenommen hatte, oder nach seinem gestohlenen Portemonnaie. Aber wo sollte er da suchen? In dem Durcheinander zwischen den Matratzen? Zwischen dem Gerümpel im Vorraum? Womöglich überraschte die
Bande ihn dabei und das Ganze begann von vorn. Ach was, ich geh nach Hause, dachte Victor. Jeder Knochen tat ihm weh nach der Nacht auf den Fliesen. Müde bahnte er sich einen Weg zu der Eingangstür, die die Kinder schon wieder verbarrikadiert hatten, und trat hinaus auf die Gasse. Drei Häuser weiter schwatzten ein paar Frauen vor einer offenen Haustür miteinander. Als sie Victor aus dem verlassenen Kino kommen sahen, schwiegen sie verblüfft, aber er grüßte sie, als gebe es nicht den geringsten Grund zur Verwunderung, zog die pappverklebte Tür hinter sich zu und machte sich mit seinen Schildkröten auf den Heimweg.
Der Einbruch
»Ihr glaubt das doch wohl nicht?«, rief Riccio, als sie Victors Gekritzel und das leere Klo entdeckten. »Wir müssen ihn sofort wieder einfangen.«
»Ach ja? Und wie?«, fragte Mosca und lugte durch die aufgebrochene Klotür. Auf der Decke, die sie ihrem Gefangenen über die Fliesen gelegt hatten, stand das Radio. Zusammengeschraubt. Nicht ein Teilchen lag noch daneben. Mosca ging hin und drehte an den Knöpfen, während die anderen immer noch vor Victors Gekritzel standen.
»Bleibt uns gar nichts anderes übrig als zu glauben, was da steht«, sagte Wespe. »Oder willst du dir jetzt gleich ein neues Versteck suchen, Riccio?«
»Und den Einbruch, den Handel mit dem Conte, willst du das alles etwa vergessen, bloß weil dieser Schnüffler es sagt?«
»Nein, will ich nicht. Aber von dem Einbruch erfährt er doch sowieso erst, wenn die Sache gelaufen ist. Und wir sind dann mit dem Geld längst verschwunden. Irgendwohin.«
»Irgendwohin.« Riccio starrte Victors Gekritzel an. Dann drehte er sich abrupt um und verschwand durch die Tür zum Kinosaal. Wespe wollte ihm nach, aber Prosper hielt sie zurück. »Warte mal«, sagte er. »Ihr wollt den Flügel immer noch rauben? Habt ihr denn gar nichts begriffen? Scipio ist noch nie irgendwo eingebrochen!«
»Wer redet denn von Scipio?« Wespe verschränkte die Arme. »Wir werden die Sache ohne Scipio machen. Jetzt doch erst recht. Wovon sollen wir leben, wenn der Herr der Diebe keine Beute mehr bringt, und damit ist ja jetzt wohl Schluss, oder? Dem Conte kann doch egal sein, wer ihm den Flügel beschafft. Und wenn wir die fünf Millionen haben, dann brauchen wir niemanden mehr, keine Erwachsenen und schon gar keinen Herrn der Diebe. Vielleicht.«, Wespe musterte noch einmal Victors Abschiedsnachricht, »vielleicht sollten wir es gleich morgen Nacht erledigen. Je eher, desto besser. Was denkst du? Willst du nicht doch mitmachen?«
»Und was wird mit Bo?« Prosper sah sie an und schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ihr unbedingt euren Hals riskieren wollt, in Ordnung. Ich wünsch euch Glück. Aber ich werde nicht mitmachen. In zwei Tagen kommt meine Tante nach Venedig. Bis dahin haben Bo und ich die Stadt verlassen. Ich versuch, uns auf irgendein Schiff zu schmuggeln. Oder in ein Flugzeug. Irgendwas, was uns weit weg bringt. Das haben andere auch schon geschafft. Vor ein paar Tagen stand so was in der Zeitung.«
»Ja, und ich ärgere mich, dass ich es dir vorgelesen habe. Verstehst du denn nicht?« Wespes Stimme klang zornig, aber in ihren Augen standen Tränen. »Das ist noch viel verrückter, als in ein fremdes Haus zu schleichen! Wir gehören doch jetzt alle zusammen, du und Bo und Riccio und Mosca - und ich. Wir sind doch jetzt so was wie eine Familie, da.«
»He, Leute, kommt doch mal her!«, rief Mosca aus dem Männerklo. »Ich glaub, dieser Schnüffler hat das Radio tatsächlich repariert! Sogar das Kassettenteil funktioniert wieder.«
Aber Wespe und Prosper beachteten ihn nicht. »Überleg es dir doch noch mal!«, sagte Wespe, und ihre Stimme klang so flehend, dass es Prosper wehtat. »Bitte.« Dann drehte sie sich um und lief Riccio nach.
Das Abendessen fiel aus. Keiner von ihnen hatte Hunger. Nur Bo verschlang zwei Schüsseln voll pappiger Cornflakes, während seine Kätzchen um ihn herumschnurrten und hastig vom Boden schleckten, was er verschüttete. Mosca tauchte überhaupt nicht auf. Er hatte sich eine Angel geschnappt und sein Radio und war nach draußen an den Kanal gegangen, wo sein Boot lag, das immer noch dringend einen Anstrich brauchte. Riccio hatte sich so tief in seinen Schlafsack vergraben, dass nicht einmal mehr die Haare herausschauten, und Prosper versuchte alle quälenden Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben, indem er den Taubendreck von den Sitzen und vom Boden schrubbte. Die Taube des Conte beobachtete ihn dabei. Mit schief gelegtem Kopf hockte sie in dem Korb, den sie ihr aufgehängt hatten, und blickte zu ihm herunter. Wespe lag auf ihrer Matratze und las einen von den Krimis aus Victors Regal, aber irgendwann merkte sie, dass sie dieselbe Seite schon dreimal gelesen hatte, klappte das Buch zu und half Prosper wortlos beim Saubermachen. Als Bo müde wurde, las Wespe ihm eine Gutenachtgeschichte vor und schlief anschließend mit ihm im Arm ein. Riccio schnarchte schon zwischen seinen Stofftieren, aber Mosca war noch nicht wieder aufgetaucht, als Prosper unter seine Decke kroch. Eine Weile lag er wach da und dachte nach, über Ehrenworte und Lügen, über Väter und Tanten, über Freundschaft und ein Zuhause und blinde Passagiere. Er drehte sich auf die Seite und betrachtete Wespe und Bo, wie sie aneinander geschmiegt schliefen, und Riccio, der in seinem Schlafsack vor sich hinmurmelte, und er fühlte sich geborgen, trotz allem, was an diesem scheußlichen Tag passiert war. Aber als er den anderen den Rücken zuwandte, da griff die Dunkelheit nach ihm; sie drückte ihm die schwarzen Finger auf die Augen, bis er sich so furchtbar verloren fühlte, dass er sich das Kissen über den Kopf zog. Als er endlich einschlief, träumte Prosper, er wäre mit Bo wieder in dem Zug, mit dem sie nach Venedig gekommen waren. Sie wollten sich einen Platz suchen, aber jedes Mal, wenn Prosper eine Abteiltür aufschob, saß Esther dahinter. Er rannte mit Bo den engen Zuggang hinunter, öffnete immer neue Türen, und hinter jeder wartete Esther und griff nach Bo. Prosper hörte sein Herz schlagen und Bo hinter sich rufen, aber er konnte nicht verstehen, was er rief. Bo schien sich immer weiter zu entfernen, obwohl Prosper seine Hand hielt. Dann versperrte plötzlich Victor ihnen den Gang. Und als Prosper sich umdrehte und verzweifelt die nächste Tür aufzerrte, um ihm zu entkommen, da war dahinter nichts als Dunkelheit, eiskalte, pechschwarze, bodenlose Dunkelheit, und bevor er zurückweichen konnte, stürzte er schon hinein. Und Bo war nicht mehr bei ihm.