Riccio schniefte nur und presste sich den Handrücken unter die Nase.
»Danke, Prop«, murmelte Scipio. Seine Wange war gestreift wie Zebrafell von Riccios Fingernägeln. »Bis morgen!«, murmelte er, zögerte und wandte sich noch einmal um. »Ihr sagt mir wirklich Bescheid, oder?« Prosper nickte.
Aber Scipio zögerte noch immer. »Der Detektiv.«, sagte er.
»Der ist abgehauen«, meinte Mosca.
»Was?«
»Ach, das macht nichts. Wir haben sein Ehrenwort, dass er uns nicht verrät«, sagte Bo und befreite sich aus Wespes Umarmung. »Er ist nämlich jetzt unser Freund.«
Scipio guckte Bo so verblüfft an, dass Wespe laut loslachte: »Na, Freund ist wohl übertrieben«, sagte sie. »Du weißt ja, Bo hat einen Narren an dem Kerl gefressen. Aber verraten wird er uns wohl wirklich nicht.«
»Na, wenn ihr meint.« Scipio zuckte die Achseln. »Bis morgen dann.« Langsam schlenderte er durch die rot gepolsterten Sitzreihen, strich mit den Fingern über die Lehnen und musterte im Vorbeigehen den sternen bestickten Vorhang. Ganz langsam ging er, als warte er immer noch darauf, dass die anderen ihn zurückriefen. Aber keiner rief, nicht einmal Bo. Der streichelte seine Kätzchen.
Er hat Angst, dachte Prosper, als er Scipio nachsah, Angst, nach Hause zu kommen. Er erinnerte sich an Scipios Vater, wie er oben an der Treppenbrüstung gestanden hatte. Und Scipio tat ihm Leid.
Noch ein Besuch
Barbarossas Laden war leer, als Prosper die Tür aufstieß. Die Glöckchen über der Tür schepperten wild, und Bo blieb fasziniert auf der Schwelle stehen und blickte zu ihnen hinauf, bis Wespe ihn in den Laden zog. Eisig kalt war es geworden über Nacht. Der Wind kam nicht länger vom Meer, sondern von den Bergen, trocken und schneidend wehte er über Brücken und Plätze. Der Winter schickte keine Boten mehr, er war selbst in die Stadt des Mondes gekommen und griff ihr mit starren, frostigen Fingern in das alte Gesicht. »Signor Barbarossa?«, rief Wespe und musterte das Gemälde über der Theke. Auch sie wusste natürlich von dem Guckloch, durch das der Rotbart seine Kundschaft beobachtete. »Si, si, pazienza!«, hörten sie ihn mürrisch rufen. Barbarossas Augen waren blutunterlaufen, als er seinen Kopf durch den Vorhang vor seiner Bürotür steckte. Prustend schnäuzte er sich in ein gewaltiges Taschentuch. »Ah, ihr habt den Kleinen dabei. Passt auf, dass er nicht wieder etwas zerbricht. Was habt ihr mit seinem Engelshaar angestellt? Sag guten Tag, Zwerg.«
»Buon giorno«, murmelte Bo und schnitt Barbarossa hinter Prospers Rücken eine Fratze.
»Ah! Buon giorno. Sein Italienisch klingt langsam besser. Kommt herein!« Mit einer ungeduldigen Handbewegung winkte Barbarossa die Kinder in sein Büro.
»Der Winter, was zum Teufel will der Winter schon hier? Ist die ganze Welt verrückt geworden?«, schimpfte er, während er sich zurück an seinen Schreibtisch schleppte. »Diese Stadt ist schon im Sommer schwer zu ertragen, aber der Winter hier bringt den gesündesten Mann an den Rand des Grabes. Doch wem erzähle ich das? Kinder wissen von so etwas nichts. Kinder frieren nicht, Kinder hüpfen in Pfützen herum und bekommen nicht einmal einen Schnupfen. Der Schnee setzt ihnen eine Mütze auf den Kopf und sie stört das nicht, während unsereins mit jeder Schneeflocke dem Tod etwas näher kommt.« Seufzend, als wäre er ein sterbenskranker Mann, ließ Barbarossa sich in seinen Stuhl fallen. »Halsschmerzen, Kopfschmerzen und ständig tropft diese Nase!«, stöhnte er. »Abscheulich! Als wäre man ein menschlicher Wasserhahn.« Er zog sich den Schal noch etwas fester um den fetten Hals und musterte seine Besucher über den Rand des Taschentuchs. »Keine Tasche, kein Beutel? Passt die Beute des Herrn der Diebe diesmal in eure Hosentaschen?«
Bo streckte die Hand aus und betastete einen kleinen Blechtrommler, der auf Barbarossas Schreibtisch stand. »Finger weg, das ist wertvoll!«, schnauzte der Rotbart und schob Bo ein Hustenbonbon hin.
»Wir wollen nichts verkaufen«, sagte Wespe. »Der Conte wollte bei Ihnen einen Brief für uns hinterlegen.« Bo hatte das Hustenbonbon ausgewickelt und schnupperte misstrauisch daran. »Ach ja, der Brief des Conte.« Barbarossa schnäuzte sich noch einmal geräuschvoll und stopfte das Taschentuch zurück in seine Westentasche. Die Weste war mit winzigen goldenen Gondeln bestickt. »Seine Schwester, die
Contessa, hat ihn gestern Abend für euch abgegeben. Er selbst kommt nur selten in die Stadt.« Der Rotbart steckte sich auch ein Hustenbonbon in den Mund und öffnete mit einem tiefen Seufzer die oberste Schreibtischschublade. »Hier, bitte sehr!« Mit gelangweilter Miene reichte er Wespe einen schmalen Umschlag. Es stand nichts darauf, weder eine Anschrift noch ein Absender. Aber als Wespe nach dem Umschlag greifen wollte, zog Barbarossa ihn zurück.
»Mal ganz unter Freunden«, schnurrte er und senkte vertraulich die Stimme, »verratet mir, was ihr für den Conte stehlen solltet. Der Herr der Diebe hat den Auftrag ja offenbar zufrieden stellend ausgeführt, nicht wahr?«
»Kann schon sein«, antwortete Prosper ausweichend und zog Barbarossa den Umschlag aus den Fingern.
»He, he, he!« Ärgerlich stemmte der Rotbart die Fäuste auf seinen Schreibtisch. Bo verschluckte sich fast an seinem Hustenbonbon vor Schreck. »Du bist wirklich ein frecher Bursche, weißt du das?«, fuhr Barbarossa Prosper an. »Hat dir niemand beigebracht, dass man sich Erwachsenen gegenüber respektvoll benimmt?« Ein heftiger Niesanfall ließ ihn auf seinen Stuhl zurückplumpsen. Prosper antwortete ihm nicht. Wortlos steckte er den Umschlag in die Innentasche seiner Jacke. Bo aber spuckte das angelutschte Hustenbonbon in seine Hand und knallte es dem Rotbart auf den Schreibtisch. »Da, kannst du zurückhaben. Weil du meinen Bruder angebrüllt hast«, sagte er.
Verdutzt starrte Barbarossa auf das klebrige Bonbon. Mit ihrem freundlichsten Lächeln beugte Wespe sich über seinen Schreibtisch. »Wie steht's mit Ihnen, Signor Barbarossa? Hat Ihnen niemand beigebracht, wie man sich Kindern gegenüber benimmt?«, fragte sie. Der Rotbart musste so heftig husten, dass sein Gesicht röter als seine Nase wurde. »Ist ja schon gut. Beim
Löwen von San Marco, seid ihr schnell beleidigt!«, grunzte er in sein Taschentuch. »Ich verstehe diese Geheimnistuerei nicht! Wisst ihr was, wir spielen einfach ein kleines Ratespiel miteinander, wenn ihr mir nicht direkt antworten wollt! Ich fange an.« Er beugte sich über den Schreibtisch. »Ist das, was der Conte so heiß begehrt, aus - Gold?«
»Nein!«, antwortete Bo und schüttelte mit breitem Grinsen den Kopf. »Überhaupt nicht.«
»Überhaupt nicht?« Barbarossa runzelte die Stirn. »Lass mich noch mal raten. Silber?«
»Ganz falsch.« Bo trat von einem Fuß auf den anderen. »Rate noch mal.«
Doch bevor der Rotbart die nächste Frage stellen konnte, schob Prosper seinen kleinen Bruder schon durch den Perlenvorhang. Wespe folgte ihnen. »Kupfer?«, rief Barbarossa ihnen hinterher. »Nein, wartet, es ist ein Gemälde. Eine Figur!«
Prosper öffnete die Ladentür. »Raus mit dir, Bo«, sagte er, aber Bo blieb noch mal stehen. »Alles falsch!«, rief er durch den Laden. »Es ist aus riiiiesigen Diamanten. Und Perlen.«
»Was du nicht sagst!« Barbarossa kämpfte sich hastig durch seinen Vorhang. »Beschreib mir das näher, Kleiner!«
»Machen Sie sich eine Wärmflasche und legen Sie sich ins Bett, Signor Barbarossa!«, sagte Wespe, zog Bo mit nach draußen - und blieb überrascht neben Prosper stehen. Schneeflocken wirbelten durch die Gasse, sie fielen so dicht vom schmutzig weißen Himmel, dass Bo die Augen zukniff. Alles war plötzlich grau und weiß, als hätte jemand die Farben der Stadt wegradiert, während sie in Barbarossas Laden waren. »Es ist also eine Kette. Oder ein Ring?« Aufgeregt steckte Barbarossa den Kopf aus seiner Ladentür. »Warum plaudern wir nicht noch ein bisschen? Ich lade euch zu einem Stück Torte ein, drüben in der Pasticceria. Was haltet ihr davon?« Aber die Kinder schlenderten davon, ohne ihn zu beachten. Sie hatten nur noch Augen für den Schnee. Die kalten Flocken setzten sich auf ihre Gesichter und auf ihr Haar. Bo leckte sich verzückt eine von der Nase und streckte die Hände in die Luft, als wolle er sie fangen, während Wespe ungläubig hinauf zu den Wolken blinzelte. Seit Jahren hatte es nicht mehr geschneit in Venedig. Die Leute, die ihnen entgegenkamen, blickten ebenso verzaubert drein wie die Kinder. Sogar die Verkäuferinnen traten aus den Geschäften, um zum Himmel zu schauen.