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»Meine Herren!«, rief er mit der Stimme, die Scipio so gern nachahmte, weil ihr Klang viel eindrucksvoller war als der seiner eigenen. »Sie sehen, die Sache hat sich erledigt. Mein Sohn hat doch beschlossen nach Hause zu kommen, wenn auch zu sehr unpassender Zeit. Vielen Dank für Ihre Bemühungen. Aber das beweist ja wohl, dass er mit diesen Kindern, die im STELLA untergekrochen sind, nichts zu tun hat.«

Scipio biss sich auf die Lippen und sah zu Wespe hoch. Sie hatte den Schritt verlangsamt, als sie ihn bemerkte. »Kennst du den Jungen?«, fragte einer der Polizisten. Sein Schnurrbart war dunkel und schmal. »Nun sag schon.« Aber Wespe schüttelte nur den Kopf.

»Wo wollen Sie mit ihr hin?«, rief Scipio. Er erschrak vorm Klang seiner eigenen Stimme, so schrill und hoch war sie. Der Polizist mit dem Schnurrbart lachte, während der andere Wes pes Arm packte. »Oh, glaubst du, du musst sie beschützen? Ein kleiner Kavalier, was? Keine Sorge, wir haben sie niemandem gestohlen. Sie ist ein freches Ding, will uns nicht ihren Namen verraten. Wir sind nur mit ihr hergekommen, weil wir dachten, dein Vater könnte von ihr etwas über dein Verschwinden erfahren.« »Unser Mädchen, Scipio, hat mich völlig hysterisch von meiner Einladung zuückgeholt!«, rief Dottor Massimo von oben herab. »Weil sie dich um Mitternacht nicht in deinem Bett vorfand, und kurz nach meiner Rückkehr ruft die Polizei hier an, um mir mitzuteilen, dass im STELLA, dem Kino, das ich habe schließen lassen, eine Bande elternloser Kinder aufgegriffen worden ist. Ich habe den Herren gleich erklärt, dass dein Verschwinden damit in keinem Zusammenhang stehen dürfte. Welche kindische Laune hat dich mitten in der Nacht aus dem Haus gelockt? Bist du irgendeiner herrenlosen Katze nachgelaufen?« Scipio antwortete nicht. Er versuchte verzweifelt, nicht ständig zu Wespe hinaufzustarren. Sie sah so traurig aus, so verloren. Gar nicht wie die Wespe, über die er sich so oft geärgert hatte. »Ich wollte mir bloß den Schnee ansehen«, murmelte er. »Ah ja, der Schnee, der macht nicht nur die Kinder verrückt!«, sagte der schnurrbärtige Carabiniere und zwinkerte Scipio zu, während der andere Polizist Wespe die Treppe hinunterschob. »Lassen Sie mich los, ich kann allein gehen!«, fuhr Wespe ihn an. Sie sprang die letzte Stufe hinunter und drängte sich mit gesenktem Kopf an Scipio vorbei. »Bo ist bei seiner Tante!«, flüsterte sie ihm zu.

»He, he, nicht so eilig, ja?«, schnauzte der Polizist, von dem sie sich losgerissen hatte, und packte ihren schmalen Nacken. »Buona notte, Dottor Massimo!«, riefen die Carabinieri, bevor sie zwischen den Säulen verschwanden. Wespe drehte sich nicht noch einmal um.

Zögernd stieg Scipio die Treppe hinauf. Er hörte, wie das Eingangstor zuschlug.

Sein Vater blickte ihm wortlos entgegen.

Wer hat das Versteck verraten?, dachte Scipio. Was ist mit den anderen? Was ist mit Prosper, Mosca und Riccio? Wieso ist Bo bei seiner Tante?

»Also, wo kommst du wirklich her?« Sein Vater musterte ihn von Kopf bis Fuß. Scipio glaubte seine Gedanken hören zu können. Bestimmt fragte er sich wieder einmal, was er mit diesem seltsamen Wesen zu tun hatte, das er seinen Sohn nannte: nicht so groß wie er, nicht so klug, interessant, arbeitsam wie er, nicht so beherrscht, berechenbar, vernünftig, kein bisschen so wie er. »Ich hab es doch schon gesagt«, antwortete Scipio. »Ich hab mir den Schnee angeguckt. Außerdem bin ich einer Katze nachgelaufen. Meiner geht es zum Glück besser, sie frisst wieder.«

»Na bitte, gut, dass ich den Tierarzt nicht gerufen habe.« Dottor Massimo runzelte die Stirn. »Dass du mitten in der Nacht draußen herumstreunst, wird natürlich Folgen haben.« Seine Stimme klang ganz ruhig. Laut wurde er nie, auch wenn er sich noch so sehr ärgerte. »Das Mädchen wird in den nächsten Nächten deine Tür abschließen. Zumindest, solange dieser alberne Schnee dich noch kindischer macht als üblich. Verstanden?« Scipio antwortete nicht.

»Herrgott, wie ich dieses verstockte Gesicht hasse. Wenn du wüsstest, wie dumm du aussehen kannst.« Mit einem Ruck drehte Scipios Vater sich um. »Ich muss mir etwas mit diesem Kino einfallen lassen«, sagte er im Weggehen. »Verwahrloste Kinder, unglaublich, womöglich kleine Diebe. Die Polizei nimmt das an. Warum hat mir dieser Journalist nichts davon erzählt, der, der vor kurzem hier war, wie hieß er noch gleich? Getz oder so ähnlich.«

»Wieso verwahrlost?« Scipio schluckte. »Das Mädchen sah doch nett aus. Und wenn die Kinder kein Zuhause haben, wieso sollen sie nicht in deinem Kino wohnen? Es steht doch leer.«

»Gott, was Kinder doch manchmal für absurde Dinge von sich geben. Es steht leer, na und? Meinst du, ich will deshalb, dass alle Streuner der Stadt sich dort verkriechen?«

»Aber was wird denn jetzt aus ihnen?« Scipio spürte, wie ihm heiß wurde. Und dann kalt. Furchtbar kalt. »Du hast das Mädchen doch gesehen. Was wird aus ihr? Denkst du darüber nicht nach?«

»Nein.« Überrascht sah sein Vater ihn an. Wie groß er war. »Was regst du dich so über das Geschick dieses Mädchens auf? So viel Anteilnahme zeigst du sonst höchstens für Katzen. Kennst du sie etwa doch?« »Nein.« Scipio hörte, wie seine Stimme lauter wurde. Er konnte nichts dagegen tun. »Nein, zum Teufel!«, rief er. »Muss ich sie kennen, damit sie mir Leid tut? Kannst du ihr nicht irgendwie helfen? Ich denk, du bist so unheimlich wichtig hier in der Stadt?«

»Geh in dein Bett, Scipio«, antwortete sein Vater und verbarg ein Gähnen hinter seiner schmalen Hand. »Herrgott, was für ein rundum verdorbener Abend.« »Bitte!«, stammelte Scipio. Die Tränen stiegen ihm in die Augen, und es kamen immer neue nach, so ärgerlich er sie auch wegwischte. »Bitte, Vater, vielleicht kennst du ja jemanden, der so ein Mädchen zu sich nimmt, sie hat doch nichts getan, sie ist doch bloß allein.«

»Geh ins Bett, Scipio«, unterbrach ihn sein Vater. »Himmel, ich glaube, du hast draußen zu lange den Mond angestarrt. Wahrscheinlich fängst du demnächst an, nach deinem Horoskop zu leben, so wie deine Mutter.«

»Das hat gar nichts mit dem Mond zu tun!«, brüllte Scipio. »Du hörst mir ja sowieso nicht zu! Du weißt ja überhaupt nicht, wer ich bin! Du hast ja keine Ahnung!«

Aber da zog sein Vater auch schon seine Schlafzimmertür hinter sich zu.

Und Scipio stand da und weinte.

Besuch für Victor

Victor hatte eine scheußliche Nacht hinter sich. Der Mann, den er hatte beobachten müssen, war bis zwei Uhr von einer Bar in die nächste gezogen. Danach war er in einem Haus verschwunden, vor dem Victor sich bis zum Morgengrauen die Füße in den Bauch gestanden hatte. Und die ganze Zeit war der Schnee auf ihn herabgerieselt. Victor hatte das Gefühl, bis zu den Knien nur noch aus Eis zu bestehen, aus knirschendem, knackendem Eis. »Ich werde mich erst mal in die Badewanne legen«, murmelte er, als er die Brücke überquerte, von der es nicht mehr weit zu seinem Haus war. »Mit Wasser so heiß, dass man Tee damit aufbrühen könnte.«

Gähnend suchte er in der Manteltasche nach seinem Schlüssel. Vielleicht sollte er den Beruf wechseln. Die Ober in den Cafes am Markusplatz liefen ebenso viel herum wie er, aber spätestens um Mitternacht konnten sie nach Hause gehen. Oder Museumswärter, warum wurde er nicht Museumswärter? Da war noch früher Schluss. Victor gähnte schon wieder. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu gähnen. Er war so schläfrig, dass er die drei kleinen Gestalten, die vor dem Hauseingang warteten, erst bemerkte, als sie auf ihn zusprangen. Verschreckt sahen sie aus, obwohl der eine Victor eine Pistole ins Nasenloch bohrte, seine eigene Pistole, wie er feststellen musste.