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Wespe lauschte Idas Lügen wie verzaubert. Dabei hielt sie ihre Hand fest, als wolle sie sie nie mehr loslassen. So wahr klang das alles, dass Wespe für einen Moment fast selbst an diese Eltern glaubte, die sich ewig stritten, während ihre Kinder sich die Hände auf die Ohren pressten.

Der Nonne mit der lauten Stimme standen vor Rührung die Tränen in den Augen. Die Gläser ihrer Brille beschlugen, und als sie sie abnahm, um sie sauber zu wischen, sah Wespe, dass ihre Augen klein waren, umgeben von Fältchen, ganz anders, als sie ihr durch die dicken Gläser erschienen waren.

»Kann ich Caterina gleich mitnehmen?«, fragte Ida, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Aber natürlich, Signora Spavento«, antwortete die Schwester und setzte ihre Brille hastig wieder auf. »Wir sind so froh, dass wir Ihnen auch einmal behilflich sein können, nach all den großzügigen Spenden, die Sie unserem Waisenhaus haben zukommen lassen. Und die Fotos, die Sie von den Kindern gemacht haben - ich sage Ihnen, sie hüten sie alle wie einen Schatz.«

»Ach, schon gut.« Ida wich Wespes neugierigem Blick verlegen aus. »Grüßen Sie bitte Schwester Angela und Schwester Lucia von mir, danken Sie auch der Oberin und schicken Sie mir die Papiere, die zu unterschreiben sind, nach Hause.«

»Natürlich!« Die Schwester eilte zur Tür und hielt sie für Ida auf. »Einen schönen Tag noch, auch Ihnen, Herr Anwalt.«

»Danke!«, brummte Victor, als er mit gewichtigen Schritten an ihr vorbeiging.

Wespe klopfte das Herz bis zum Hals, als sie den Hof überquerten. Unzählige Fenster blickten auf das graue Pflaster herab, kahle, schmucklose Fenster. Nur im Erdgeschoss klebten schon Weihnachtssterne an den Scheiben. Ganz oben presste immer noch ein Mädchen das Gesicht gegen das Glas, genau wie Wespe es getan hatte.

»So viele Fenster«, murmelte Victor neben ihr. »So viele Fenster und so viele Kinder.«

»Ja, und niemand, der sie in den Arm nimmt und sich jeden Tag über sie freut«, sagte Ida. »Was für eine Verschwendung.«

»Arrivederla, Signora Spavento!«, rief die Schwester, die aus dem Pförtnerhäuschen huschte, um ihnen das große Portal zu öffnen. »Du meine Güte!«, brummte Victor, als sie hindurchgingen. »Die behandeln Sie ja, als hätten Sie einen Heiligenschein! Warum ist dieses Tor so hoch? Man könnte meinen, es wäre für eine Elefantenherde gebaut worden und nicht für Kinder.« Wespe machte sich von seiner Hand los. Sie hatte es plötzlich sehr eilig. Sie lief zum Rand des Kanals, an dessen Ufer das Waisenhaus lag, spuckte in das dunkle Wasser, schaute den Schiffen nach, die hinunter zum Canal Grande fuhren, und atmete tief ein.

Einen Moment stand sie so da, die Lungen gefüllt mit der frischen, feuchten Luft.

Dann atmete sie sie wieder aus, ganz langsam, und mit ihr all die Angst und Verzweiflung, die sie erfüllt hatten, seit die Carabinieri sie hergebracht hatten. Aber dann fiel ihr plötzlich Bo ein. Besorgt drehte sie sich zu Ida und Victor um. »Was ist mit Bo?«, fragte sie. »Und mit den anderen?«

Victor zog sich den falschen Bart vom Kinn. »Mosca und Riccio sind bei Ida«, sagte er. »Aber Bo ist noch bei seiner Tante.« Wespe senkte den Kopf und stieß mit dem Fuß eine Zigarettenkippe in den Kanal. »Und Prosper?«, fragte sie. »Den sucht Riccio gerade«, antwortete Victor. »Mach nicht so ein Gesicht. Er wird ihn schon finden.«

Prosper

Riccio fand Prosper vor dem Gabrielli Sandwirth. Wie festgefroren stand er auf der breiten Promenade, ohne die Leute zu beachten, die an ihm vorbeigingen. An der Riva degli Schiavoni herrschte immer Gedränge, selbst an einem so schneidend kalten Tag wie diesem, denn einige der schönsten Hotels der Stadt lagen hier. Zahllose Schiffe liefen die Anlegestellen an, es war ein einziges Kommen und Gehen. Prosper hörte, wie der Wind die Schiffe gegen die Anleger trieb, wie sie dumpf gegen das Holz prallten, er hörte die vorbeigehenden Menschen lachen und reden, in unzähligen Sprachen, aber er stand nur da, den Kragen hochgeschlagen gegen die eisige Kälte, und sah zu den Fenstern des Sandwirth hinauf. Als Riccio ihm die Hand auf die Schulter legte, drehte er sich erschrocken um.

»He, Prop, da bist du ja endlich!«, sagte Riccio erleichtert. »Ich such schon den halben Tag nach dir. Hier war ich auch schon ein paar Mal, aber du warst nicht da.«

»Tut mir Leid«, murmelte Prosper und drehte sich wieder um. »Ich bin ihnen den ganzen Tag hinterhergelaufen«, sagte er, »ohne dass sie es gemerkt haben. Manchmal hat Bo mich fast entdeckt, dann hab ich mich schnell geduckt. Ich hatte Angst, er dreht durch, wenn er mich sieht. So was kann mein Onkel gar nicht leiden.« Prosper strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich bin ihnen überallhin gefolgt. Sie haben Bo was zum Anziehen gekauft, sogar eine Fliege wollte Esther ihm umbinden, aber die hat Bo heimlich in einen Papierkorb geschmissen. Du würdest ihn nicht wieder erkennen. In den zu großen Pullovern, die Scipio ihm mitgebracht hat, sah er wirklich ganz anders aus. Sogar zum Frisör haben sie ihn geschleppt, keine Spur ist mehr von der schwarzen Farbe zu sehen, die wir ihm auf den Kopf geschmiert haben. Dann sind sie mit ihm von einem Cafe zum nächsten gewandert, doch er hat nie was angerührt, egal, was sie ihm bestellt haben. Er hat einfach nur über ihre Köpfe weggestarrt. Einmal hat er mich, glaub ich, hinter der Scheibe entdeckt und wollte losrennen, aber mein Onkel hat ihn sich geschnappt wie einen kleinen Hund und wieder auf den Stuhl gesetzt. Vor das riesengroße Eis, das er nicht essen wollte.«

»Warum hat er es nicht gegessen?« Riccio konnte sich nichts und niemanden vorstellen, der ihm den Appetit auf große Eisbecher verderben könnte.

Prosper musste lächeln. Aber sein Gesicht wurde sofort wieder ernst. »Sie sind jetzt dadrin«, sagte er und zeigte hinauf zu den erleuchteten Fenstern. »Irgendwann hab ich mich getraut, reinzugehen und den Portier zu fragen, in welchem Zimmer Esther wohnt. Aber der Kerl hat nur gesagt, die Hartliebs sind nicht zu sprechen. Für niemanden.«

Ein paar Augenblicke lang standen die beiden Jungen nebeneinander da und blickten zu den Fenstern hinauf. Schöne Fenster waren es, hell erleuchtet, mit schimmernden Vorhängen. Hinter welchem Bo wohl steckte?

»Komm jetzt!«, sagte Riccio schließlich und blickte einem Mann nach, der seinen Fotoapparat leichtsinnig hin- und herschwenkte.

»Du kannst doch nicht bis in die Nacht hier herumstehen. Willst du nicht wissen, wo wir untergekommen sind? Victor hat uns geholfen, unseren Kram zusammenzupacken, und dann haben wir alles zum Campo Santa Margherita geschleppt. Mosca hat den ganzen Weg lang genörgelt, dass das eine Schnapsidee von mir ist, aber was soll ich dir sagen? Ida hat uns ohne mit der Wimper zu zucken aufgenommen! Sogar ein eigenes Zimmer haben wir, unterm Dach. Die Matratzen konnten wir ja nicht mitnehmen, aber Ida hatte noch zwei alte Betten, die haben wir erst mal zusammengeschoben. Wird ein bisschen eng für uns alle, aber besser als draußen schlafen ist es allemal. Nun sag doch mal was! Ist das nicht wunderbar? Komm, es gibt auch bald was zu essen. Ich sag dir, die dicke Haushälterin kann kochen!« Er griff nach Prospers Arm, aber Prosper schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte er und machte sich los. »Ich bleib hier.« Riccio stieß einen tiefen Seufzer aus und warf einen Blick zum Himmel, als bitte er um Beistand von dort oben. »Prop!«, sagte er beschwörend. »Was meinst du, was der Portier macht, wenn er dich mitten in der Nacht vor dem Hotel herumlungern sieht? Der holt die Carabinieri. Und was willst du denen erzählen? Dass deine Tante deinen Bruder entführt hat?«