Renzos Stimme holte ihn zurück auf die Erde. »Spring ab!«, hörte Prosper ihn rufen.
Erschrocken öffnete er die Augen. Das Karussell drehte sich langsamer. Da kam der Wassermann, den Dreispitz in der Hand, da die Seejungfrau und der Löwe, da schwebte das Einhorn heran, viel langsamer jetzt - und da kam das Seepferd. Das Karussell hielt an - und der Rücken des Seepferds war leer. »Scipio?«, rief Prosper und lief um das Karussell herum. Renzo folgte ihm.
Auf der anderen Seite war es dunkel. Hohe, immergrüne Bäume wuchsen dort, ihre Zweige ragten weit in die Lichtung hinein. Unruhig wiegten sie sich im Wind. In ihrem Schatten bewegte sich etwas. Eine Gestalt richtete sich auf, hoch gewachsen und schmal. Prosper blieb stehen.
»Das war knapp«, sagte eine fremde Stimme. Prosper wich ohne es zu wollen zurück.
»Sieh mich nicht so an.« Der Fremde lachte verlegen. Das heißt, so fremd war er Prosper nicht. Er sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Scipios Vater. Nur das Lächeln war anders, ganz anders. Scipio streckte die Arme aus - wie lang sie waren! - und drückte Prosper ungestüm an sich.
»Es hat funktioniert, Prop!«, rief er. »Sieh doch. Sieh doch nur.« Er ließ Prosper los und fuhr sich übers Kinn.
»Bartstoppeln! Unglaublich. Willst du mal fühlen?« Lachend drehte er sich um sich selbst, die langen Arme ausgestreckt. Er packte den protestierenden Renzo und hob ihn hoch. »Stark wie Herkules!«, rief er und stellte Renzo wieder auf die Füße. Dann betastete er sein Gesicht, fuhr sich mit dem Finger über den Nasenrücken, die Augenbrauen. »Wenn ich doch bloß einen Spiegel hätte!«, sagte er. »Wie seh ich aus, Prop? Ganz anders?«
Wie dein Vater, wollte Prosper sagen, aber er schluckte die Worte herunter.
»Erwachsen«, antwortete Renzo an seiner Stelle. »Erwachsen!«, flüsterte Scipio und betrachtete seine Hände. »Ja, erwachsen. Was meinst du, Prop, bin ich größer als mein Vater? Ein kleines Stück bestimmt, oder?« Suchend sah er sich um. »Hier muss doch irgendwo ein Brunnen oder ein Teich sein, in dem ich mein Spiegelbild sehen kann.«
»Im Haus ist ein Spiegel«, antwortete Renzo. Er musste lächeln. »Kommt. Ich muss sowieso zurück.« Aber mitten auf der Lichtung blieb er stehen. Irgendwo zwischen den Büschen knackte es, als würde sich ein großes Tier durch die Zweige zwängen. »Wo führst du mich hin, du kleines Biest?«, hörten sie eine Stimme schimpfen. »Ich bin schon mit Dornen gespickt wie ein Kaktus.«
»Das ist der Weg. Wir sind gleich da!«, hörten sie Morosina antworten. Erschrocken sah Renzo sich zu Prosper und Scipio um. Er wollte loslaufen, in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren, aber Scipio zerrte ihn zurück hinter das Karussell. »Duckt euch!«; flüsterte er Prosper und Renzo zu und kauerte sich mit ihnen hinter das Podest.
»Das werden Sie bereuen!«, hörten sie Morosinas helle Stimme rufen. »Sie haben kein Recht, hier herumzuschnüffeln. Wenn der Conte erfährt.« »Ach was, der Conte!«, höhnte eine tiefe Stimme, die Prosper bekannt vorkam. »Der ist heute nicht da. Er hat es mir selbst gesagt. Nein, du bist allein hier, wer immer du bist! Was denkst du, warum Ernesto Barbarossa dieser verfluchten Insel gerade heute einen Besuch abstattet?«
Renzo fuhr zusammen. »Barbarossa!«, flüsterte er. Er wollte aufspringen, aber Scipio hielt ihn fest. Vorsichtig schoben die drei sich vor und lugten über den Rand des Podests. »Denkst du, ich bin umsonst über diese verfluchte Mauer geklettert?«, hörten sie Barbarossa schnaufen. »Ich will jetzt endlich wissen, worum sich diese ganze Geheimniskrämerei dreht. Und wenn ich es nicht gleich erfahre, dann werde ich sehr, sehr ungemütlich!«
Noch einmal knackten die Zweige, dann stapfte Barbarossa schwer atmend auf die Lichtung. Morosina zerrte er an ihrem langen Zopf hinter sich her wie an einer Hundeleine. »Zum Teufel, was ist das?«, brüllte der Rotbart, als er das Karussell sah. »Willst du mich veralbern? Ich suche etwas mit Diamanten, mit riesigen Diamanten und Perlen. Ich wusste doch gleich, dass du mich an der Nase herumführst. Aber jetzt gehen wir zwei zum Haus zurück und wehe, dort zeigst du mir nicht, was ich suche!«
»Prosper!«, flüsterte Scipio, so leise, dass Prosper ihn kaum verstand. »Sehe ich meinem Vater ähnlich? Sag schon.« Prosper zögerte. Und nickte.
»Gut. Sehr gut.« Scipio strich sich die Jacke glatt und leckte sich die Lippen wie ein Kater, der sich auf die Jagd freut. »Ihr wartet hier erst mal«, flüsterte er. »Ich glaube, jetzt wird es sehr, sehr lustig.« Geduckt schob er sich an Renzo und Prosper vorbei, sah sich noch einmal nach ihnen um - und richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
Er war wirklich noch ein paar Zentimeter größer als sein
Vater. Das Kinn vorgestreckt, so wie Dottor Massimo es auch gerne tat, schritt Scipio auf Barbarossa zu.
Der Rotbart starrte ihm mit offenem Mund entgegen. Er hielt Morosinas Zopf immer noch in der Hand.
»Dottore... Dottor Massimo!«, stammelte er entgeistert. »Was. machen Sie denn hier?«
»Das wollte ich gerade Sie fragen, Signor Barbarossa«, antwortete Scipio. Prosper staunte, wie täuschend echt er den herablassenden Ton seines Vaters nachahmte. »Und was in Gottes Namen machen Sie denn da mit der Contessa?«
Barbarossa ließ Morosinas Zopf so erschrocken los, als hätte er sich daran verbrannt. »Contessa? Vallaresso?« »Natürlich, die Contessa ist oft bei ihrem Großvater zu Besuch. Nicht wahr, Morosina?« Scipio lächelte ihr zu. »Aber was treibt Sie auf diese Insel, Signor Barbarossa? Geschäfte?«
»Wie? Ja, ja.« Barbarossa nickte verdattert. »Geschäfte.« Er war immer noch viel zu verblüfft, um zu bemerken, dass Morosina Scipio ebenso erstaunt ansah wie er.
»Ah ja. Nun, mich hat der Conte hergebeten, damit ich dieses Karussell begutachte.« Scipio drehte Barbarossa den Rücken zu und zupfte sich am Ohrläppchen, wie es die Angewohnheit seines Vaters war. »Die Stadt will es eventuell ankaufen. Aber ich fürchte, es ist in einem bedauerlich schlechten Zustand. Sie erkennen es natürlich, nicht wahr?«
»Erkennen?« Barbarossa trat verdutzt an seine Seite - und riss die Augen auf.
»Natürlich! Einhorn, Seejungfrau, Löwe, Wassermann«, er schlug sich gegen die Stirn, als wolle er seinem trägen Verstand Beine machen, »und da ist das Seepferd. Das Karussell der Barmherzigen Schwestern! Unfassbar!« Er senkte die Stimme und blickte Scipio verschwörerisch an. »Was ist mit den Geschichten? Den
Geschichten, die man sich darüber erzählt?« Scipio zuckte die Achseln. »Wollen Sie es ausprobieren?«, fragte er mit einem Lächeln, das so gar nicht nach Dottor Massimo aussah. Aber Barbarossa bemerkte auch das nicht. »Wissen Sie denn, wie man es in Bewegung setzt?«, fragte er und kletterte umständlich auf das Podest.
»Oh, ich habe zwei junge Helfer dabei«, sagte Scipio. »Sie stecken irgendwo dahinten, wollen sich wohl wieder vor der Arbeit drücken.« Er winkte Prosper und Renzo hinter dem Karussell hervor. »Nun kommt schon, ihr zwei. Signor Barbarossa möchte mit dem Karussell fahren.«
Barbarossa kniff die Augen zusammen, als er Prosper sah. »Was macht der denn hier?«, knurrte er und starrte argwöhnisch auf ihn herunter. »Den Jungen kenne ich. Er arbeitet für.«
»Ich arbeite jetzt für Dottor Massimo«, unterbrach Prosper ihn und stellte sich an Scipios Seite. Morosina lief zu ihrem Bruder und flüsterte ihm etwas zu. Renzo wurde blass.