Выбрать главу

»Lass dich doch von der kleinen Ratte nicht reizen, Scip!«, flüsterte Wespe ihm zu, während Barbarossa mit selbstzufriedenem Lächeln seine rosigen Fingernägel betrachtete. Scipio ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. »Schon gut«, murmelte er, ohne Barbarossa aus den Augen zu lassen. »Ich werde mich beherrschen. Und Signor Barbarossa irgendwann eine Ansichtskarte ins Waisenhaus schicken, denn da wird er unweigerlich landen, wenn er nicht vorher elendiglich in seinem Laden verhungert. Ja, so wird es mit dem Ärmsten kommen, aber mir soll es egal sein. Ich werde keinen Gedanken mehr darauf verschwenden, schon gar keinen genialen.« Mit gelangweiltem Gesicht stand er auf, schlenderte zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus.

Riccio und Mosca stießen sich an. Und Prosper konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ja, Scipio war immer noch Scipio, er spielte immer noch gern Theater. Und Barbarossa schluckte den Köder.

»Schon gut, schon gut«, murrte er. »Was ist das für eine geniale Idee? Rück schon heraus damit, Herr der Diebe. Weiß Gott, der Mensch ist ja empfindlicher als ein Glasblümchen.« Aber Scipio kehrte ihm weiter den Rücken zu. Als wäre er allein, stand er am Fenster und betrachtete den nächtlichen Campo Santa Margherita. »Nun, heraus damit, zum Teufel!«, rief Barbarossa, während die anderen zu kichern begannen. Aber Scipio rührte sich nicht. Barbarossa schlürfte den letzten Rest Wein aus seinem Glas und knallte es so heftig auf den Tisch, dass es fast zerbrach. »Soll ich auf den Knien herumrutschen?«, rief er.

»Diese Tante von Prosper und Bo«, sagte Scipio, ohne sich umzudrehen, »wünscht sich einen süßen kleinen Jungen mit guten Tischmanieren und dem Benehmen eines Erwachsenen. Und du brauchst einen Unterschlupf, ein Zuhause für die nächsten Jahre, jemanden, der dir das Essen hinstellt und nebenan schläft, wenn es dunkel wird.«

Barbarossa hob die Augenbrauen. »Hat sie Geld?«, fragte er und strich sich eine Locke aus der Stirn. »O ja«, antwortete Scipio. »Nicht wahr, Prop?« Prosper nickte nur.

»Das ist wirklich eine ziemlich verrückte Idee, Scip«, sagte er. »Das wird niemals klappen.«

Was nun?

Barbarossa weigerte sich, mit den anderen Kindern in einem Zimmer zu schlafen. Stattdessen machte er es sich auf dem Sofa im salotto bequem. Ida ließ ihn gewähren, aber sie schloss ihn vorsorglich ein, was Barbarossa nicht bemerkte. Dann brachte sie Victor noch zur Tür und ging schlafen.

Scipio war schon lange fort. Er hatte sich von Mosca etwas von dem Geld geben lassen, das sie noch von dem Handel mit Barbarossa besaßen, und war in die Nacht verschwunden. Wohin er wollte, sagte er nicht. »Wie früher«, murmelte Wespe, als sie ihm von Idas Balkon aus nachblickten.

Die Nacht verschluckte Scipio, und sie blieben zurück mit seinem Versprechen, bald wiederzukommen. Und mit einer seltsamen Traurigkeit, die sie enger zusammenrücken ließ. Jeder von ihnen wusste, woran die anderen dachten - an einen Vorhang voller Sterne, an eine Tür in einer schmalen Gasse, an Matratzen auf dem Boden und mäusezerfressene Sessel. Und an Gold und Silber aus dem Beutel des Herrn der Diebe. Alles verloren.

»Kommt, lasst uns reingehen«, sagte Wespe irgendwann. »Es fängt wieder an zu regnen.«

Sie gingen hinauf in ihr Zimmer, wo an der Wand das Stück Vorhang hing, das Victor abgeschnitten hatte. Ida hatte ihnen einen Teppich auf den kahlen Boden gelegt, und die Wände schmückte das, was sich im Kino noch hatte retten lassen. Aber so manches Foto, so manches Bild hing immer noch dort an der Wand über ihren leeren Matratzen und auch das, was sie gemalt und gekritzelt hatten, hatten sie nicht mitnehmen können. Müde krochen sie unter ihre Decken. Doch keiner von ihnen fand Schlaf, nicht einmal Bo, dem sonst die Augen zufielen, sobald er den Kopf aufs Kissen legte. »Das wäre was, wenn Barbarossa sich bei eurer Tante einnisten könnte«, sagte Mosca irgendwann in die Dunkelheit hinein. »Aber was machen wir? Jetzt, wo Prop wieder da ist und Bo auch. Hat da irgendeiner schon eine Idee?«

»Nee«, brummte Riccio in sein Kissen. »So was Gutes wie das Sternenversteck kriegen wir nie wieder. Schon gar nicht mit einer Tasche Falschgeld. Und von dem anderen Geld ist auch nicht mehr viel übrig. Vielleicht finden wir in Castello was. Da stehen viele Häuser leer.«

»Wieso?« Bo richtete sich so abrupt im Bett auf, dass er Prosper die Decke wegzog. »Ich will gar kein neues Versteck. Ich will hier bleiben. Bei Ida!«

»Ach, Bo!« Wespe knipste die Lampe an, die Ida ihr ans Bett gestellt hatte, damit sie abends noch lesen konnte. »Hört euch den Zwerg an«, spottete Riccio. Er lehnte den Rücken gegen die Wand und wickelte sich die Bettdecke um den mageren Körper. »Weiß Ida schon von der Ehre? Also, ich werde mich morgen mal in Castello umsehen. Wie sieht's mit euch aus?«

Mosca nickte. »Klar, ich bin dabei«, murmelte er und blickte aus dem Fenster, als wollte er ein Loch in die Nacht starren. Wespe griff nach einem der Bücher, die sie sich aus Idas Regal geholt hatte, und begann gedankenverloren darin herumzublättern.

»Ich bleib aber hier!«, wiederholte Bo und verschränkte störrisch die Arme. »Jawohl.«

»Du schläfst jetzt«, sagte Prosper, drückte ihn zurück aufs Kissen und deckte ihn zu. »Darüber reden wir morgen.«

»Da können wir hundert und tausend Jahre drüber reden!«, rief Bo und strampelte die Decke weg. »Ich bleib hier. Meinen Katzen gefällt es auch hier, weil sie Lucias Hunde ärgern können, und Victor holt mich und Ida ab und wir gehen Eis essen und Lucia macht mir Lieblingsnudeln und.«

»Na und?«, unterbrach Riccio ihn. »Als Nächstes werden sie dir erzählen, dass du zur Schule gehen musst und wann du schlafen und was du essen sollst und dass du dich öfter waschen musst. Nein danke! Mann, wir kommen schon so lange allein zurecht, da lass ich mir doch nicht erzählen, dass ich zu jung zum Rauchen bin oder dass meine Fingernägel dreckig sind. Nein, meine Herren, nicht mit Riccio.«

Ein paar Augenblicke lang schwiegen die anderen. Dann sagte Mosca mit gemächlicher Stimme: »Mann, das war ja eine richtige Rede, Riccio.«

Wespe legte ihr Buch weg, tappte auf nackten Füßen zum Fenster und blickte hinaus.

»Ich würde auch gern hier bleiben«, sagte sie, so leise, dass die anderen sie kaum verstanden. »Es ist besser als alles, was ich mir vorgestellt habe.«

»Du spinnst«, sagte Riccio und kroch gähnend wieder unter seine Decke. »Ich werd Scipio fragen, was er vorhat. Falls er wirklich noch mal zurückkommt. Vielleicht hat er ja noch eine geniale Idee.«

»Was er jetzt wohl treibt«, murmelte Mosca. »Hast du eine Ahnung, Prop?«

Wespe kehrte zu ihrem Bett zurück und knipste die Lampe aus. »Kann sein«, antwortete Prosper und starrte hinauf zur dunklen Decke. Er versuchte sich Scipio vorzustellen: wie er durch die Gassen ging und sein Spiegelbild in den dunklen Ladenfenstern musterte, wie er ins Licht der Laternen trat und betrachtete, wie lang sein Schatten geworden war. Vielleicht ging er in eine der Bars, in denen die Erwachsenen bis tief in die Nacht saßen. Und dann, wenn seine Schritte immer müder wurden, mietete er sich schließlich das Hotelzimmer, von dem er gesprochen hatte, mit einem großen Spiegel, und rasierte sich davor zum ersten Mal das fremde Gesicht. »Meinst du, es geht ihm gut?«, fragte Bo und legte den Kopf auf Prospers Brust.

»Ich glaub schon«, antwortete Prosper. »Ja, ich glaub, es geht ihm gut.«

Der Köder

Als Victor am nächsten Morgen in die Casa Spavento kam, brachte er eine Zeitung mit, von deren Titelseite Scipios Foto blickte. Fast sämtliche Zeitungen der Stadt brachten es an diesem Morgen, zusammen mit einem Aufruf der Polizei an alle Venezianer, dem verehrten Dottor Massimo bei der Suche nach seinem verschwundenen Sohn zu helfen.