Gereizt blickte sich Rand noch einmal um. »Keiner von Euch würde ein Kleid gut stehen.« Überraschenderweise lachten nun die Töchter und die Messerhände wieder, und diesmal lauter. Vielleicht bekam er den Humor der Aiel doch langsam in den Griff.
Alles war wie erwartet, als er aus dem Südtor bei den Stallungen in die gewundenen Straßen der Innenstadt ritt. Jeade'ens Hufe klapperten laut auf den Pflastersteinen, als der Hengst tänzelte; in letzter Zeit war der Apfelschimmel ziemlich selten aus dem Stall geholt worden. Es waren recht viele Menschen zu sehen, aber lange nicht so viele, wie er auf der anderen Seite des Palastes erwartet hätte, und sie gingen alle ihren eigenen Beschäftigungen nach. Trotzdem wurde natürlich mit Fingern auf ihn gezeigt, und die Leute steckten die Köpfe zusammen. Einige mochten Bashere erkannt haben, der sich im Gegensatz zu Rand oft in der Stadt aufgehalten hatte, aber jeder, der vom Palast her kam und noch dazu eine Eskorte Aiel bei sich hatte, mußte wichtig sein. Das Tuscheln und die ausgestreckten Finger folgten ihm durch die Stadt.
Obwohl er angestarrt wurde, hatte Rand noch einen Blick für die Schönheiten der von Ogiern erbauten Innenstadt. Die wenigen Gelegenheiten, die er noch fand, um etwas zu genießen, waren für ihn ungeheuer wertvoll. Die Straßen verliefen in weiten Bögen von dem im Sonnenschein weiß schimmernden Königlichen Palast und paßten sich den Konturen der Hügel an, als seien sie ein Teil des Landes. Überall ragten schlanke Türmchen auf, die mit bunten Kacheln geschmückt waren, oder goldene, purpurfarbene oder weiße Kuppeln, die unter der Sonne gleißten. Hier war eine Lücke in der Bebauung gelassen worden, um den Blick auf einen baumbestandenen Park freizugeben, und dort lenkte eine Anhöhe den Blick nach oben über die Stadt zu der welligen Ebene und den Wäldern jenseits der hohen, silber gefleckten, weißen Mauer, die ganz Caemlyn umschloß. Die Plätze und Parks waren angelegt worden, um das Auge zu erfreuen und zu beruhigen. Der Aussage der Ogier nach hatten nur Tar Valon und das legendäre Manetheren diese Stadt jemals übertroffen, und viele Menschen, besonders die Andoraner, glaubten, Caemlyn käme beiden sogar gleich.
Die reinweiße Mauer um die Innenstadt zeigte an, wo die sie umgebende Neustadt begann, die ihre eigenen Kuppeln und Türmchen aufwies, von denen einige sich bemühten, an Höhe jene der Innenstadt auf den höheren Hügeln zu erreichen. Hier waren die engeren Straßen vollgepackt mit Menschen, und selbst die breiten Alleen, die in der Mitte mit Bäumen bepflanzte Grünstreifen aufwiesen, waren voll von Menschen und Ochsenkarren und pferdegezogenen Planwagen, Reitern, Kutschen und Sänften. Ein Summen lag in der Luft wie von einem riesigen Bienenstock.
Hier kamen sie langsamer vorwärts, obwohl ihnen die Menge bereitwillig Platz machte. Die Leute wußten genausowenig wie die in der Innenstadt, wer er war, aber niemand wollte den trabenden Aiel in den Weg treten. Bei so vielen Menschen dauerte das eine Weile. Und hier gab es so viele verschiedene Arten von Menschen: Bauern in grober Wollkleidung und Kaufleute in Mänteln und Kleidern feineren Zuschnitts, Handwerker eilten mit ihren Produkten einher, und Händler priesen ihre Waren lauthals an, die sie aus Bauchläden und Schubkarren feilboten, nahezu alles, von Nadeln und Bändern bis zu Obst und Feuerwerkskörpern. Die beiden letzteren Artikel waren mittlerweile sehr teuer geworden. Ein Gaukler in seinem Flickenumhang stand Schulter an Schulter mit drei Aiel, die Klingen auf einem der Tische vor dem Laden eines Messerschmieds in Augenschein nahmen. Zwei hagere Kerle, die ihr dunkles Haar zu Zöpfen geflochten hatten und die Schwerter auf dem Rücken trugen — Jäger des Horns, wie Rand annahm —, waren ins Gespräch vertieft mit einigen Männern aus Saldaea, während in der Nähe eine Frau Flöte spielte und ein Mann dazu an einer Ecke das Tamburin schlug. Menschen aus Cairhien, kleiner und von blasserer Hautfarbe, hoben sich von den Andoranern ab, genau wie die dunkelhäutigeren Tairener, aber Rand erblickte auch Leute aus Murandy in langen Mänteln und solche aus Altara mit kunstvoll bestickten Westen, Kandori mit gespaltenen Barten, und sogar zwei Männer aus Arad Doman mit langen, dünnen Schnurrbärten und Ohrringen.
Auch eine andere Art von Menschen hob sich von den übrigen ab: jene, die in zerknitterten Jacken und Kleidern herumirrten, oftmals staubbedeckt und immer blinzelnd oder mit weit aufgerissenen Augen, offensichtlich ziellos und ohne zu wissen, was sie als nächstes unternehmen sollten. Diese Menschen waren ihrem Ziel so nahe gekommen wie nur möglich. Ihm. Dem Wiedergeborenen Drachen. Er hatte keine Ahnung, was er mit ihnen anfangen sollte, aber er trug die Verantwortung für sie. Es spielte keine Rolle, daß er sie nicht darum gebeten hatte, ihr Leben wegzuwerfen, nicht gewollt hatte, daß sie alles aufgaben. Sie hatten es trotzdem getan. Seinetwegen. Und sollten sie erfahren, wer er war, würden sie vielleicht sogar die Aiel überrennen und ihn in Stücke reißen, nur, weil sie ihn unbedingt einmal berühren wollten.
Er berührte den Angreal in Form eines fetten, kleinen Mannes in seiner Rocktasche. Es wäre schon schlimm, käme es dazu, daß er die Eine Macht anwenden mußte, um sich gegen Menschen zu schützen, die seinetwegen alles im Stich gelassen hatten. Deshalb begab er sich so selten in die Stadt. Zumindest war das einer der Gründe. Es gab einfach zuviel zu tun, um lediglich zum Vergnügen auszureiten.
Die Schenke nahe der westlichen Stadtgrenze, zu der ihn Bael nun führte, nannte sich Culains Jagdhund — drei Stockwerke unter einem roten Ziegeldach. Auf der gewundenen Seitenstraße drängte sich die Menge um Rands Gruppe, als sie vor der Schenke anhielten. Wieder berührte Rand den Angreal. Zwei Aes Sedai; er sollte eigentlich in der Lage sein, mit ihnen ohne Hilfe des Angreal fertig zu werden. Dann stieg er ab und ging hinein. Voraus gingen natürlich drei Töchter des Speers und zwei Messerhände. Alle schlichen sprungbereit auf den Fußballen und schienen nur um Haaresbreite davon entfernt, den Schleier hochzuziehen. Es ging wohl nicht anders. Eher hätte er einer Katze das Singen beibringen können. Bashere ließ zwei seiner Soldaten aus Saldaea bei den Pferden zurück und schritt mit Bael und den anderen zusammen gleich hinter Rand hinein. Der Rest der Aiel folgte ihnen, bis auf jene, die draußen Wache standen. Was sie vorfanden, war aber keineswegs, was Rand erwartete.
Der Schankraum unterschied sich nicht von hundert anderen Schenken Caemlyns. Große Bier- und Weinfässer standen an einer rauh verputzten Wand aufgereiht, und obenauf kleinere Brandyfässer. Ganz oben lag eine graugestreifte Katze ausgestreckt. An zwei Enden befanden sich gemauerte sauber ausgefegte Kamine. Drei oder vier Kellnerinnen mit weißen Schürzen eilten zwischen den Tischen und Bänken einher, die auf den blanken Holzbohlen des Fußbodens standen. Die Decke war aus schweren Balken gezimmert. Der Wirt, ein Mann mit rundem Gesicht und Dreifachkinn und einer weißen Schürze, die sich mächtig um seinen dicken Bauch spannte, trabte händeringend heran und musterte die Aiel nur ein ganz klein wenig besorgt. In Caemlyn hatte man begriffen, daß sie keineswegs alles in Reichweite plündern und brandschatzen wollten. Dabei war es ihm ziemlich schwergefallen, die Aiel davon zu überzeugen, daß Caemlyn kein erobertes Gebiet sei und sie nicht ihr übliches Fünftel mitnehmen durften. Das hieß natürlich nicht, daß die Wirte daran gewöhnt waren, gleich zwei Dutzend Aiel auf einmal in ihrem Schankraum begrüßen zu dürfen.
Der Wirt richtete seine Aufmerksamkeit auf Rand und Bashere. Hauptsächlich auf Bashere. Beide waren ihrer Kleidung nach gewiß Männer von Bedeutung, aber Bashere war um vieles älter und deshalb vermutlich der wichtigere. »Willkommen, die Lords, meine Lords. Was kann ich Euch anbieten? Ich habe Weine aus Murandy und Andor, Brandy aus...«
Rand beachtete den Mann gar nicht. Was nicht das gleiche war wie in hundert anderen Schankräumen, waren die Gäste. Zu dieser Stunde hätte er vielleicht ein oder zwei Männer erwartet, aber es waren keine da. Statt dessen saßen an den Tischen einfach gekleidete junge Frauen, überwiegend noch Mädchen, die sich auf ihren Plätzen umdrehten, die Teetassen in den Händen, um die Neuankömmlinge anzugaffen. Mehr als eine schnappte Baels Größe wegen nach Luft. Allerdings musterten nicht alle von ihnen die Aiel, und es war gerade dieses knappe Dutzend Mädchen, das ihn angaffte, was Rand die Augen aufreißen ließ. Er kannte sie. Nicht alle kannte er gut, doch immerhin kannte er sie. Besonders eine von ihnen erregte seine Aufmerksamkeit.