Alanna beherrschte sich dagegen nicht. Selbst unter den Grünen war sie als reines Quecksilber verrufen, und in letzter Zeit war es mit ihrem Temperament noch schlimmer geworden, »Ihr begebt Euch jetzt sofort auf Eure Zimmer«, sagte sie kühl, doch nur ihre Stimme strahlte diese Kühle aus. Verin seufzte, als die andere Aes Sedai ein Trugbild aus Luft und Feuer verwob. Überall im Raum wurde nach Luft geschnappt, und die weit aufgerissenen Augen quollen noch zusätzlich heraus. Eigentlich war das überflüssig, doch die guten Manieren verboten es Verin, öffentlich einer anderen Schwester ins Handwerk zu pfuschen, und zudem empfand sie es als Erleichterung, daß Elles Heulen mit einem Mal abbrach. Auch ihre eigenen Nerven lagen blank. Natürlich konnten diese unausgebildeten jungen Frauen die Stränge der Macht nicht sehen. Ihnen mußte es erscheinen, als wachse Alanna bei jedem Wort. Auch ihre Stimme schwoll mit an, obwohl der Tonfall der gleiche blieb, und nun dröhnte sie, wie es ihrer augenblicklichen Größe entsprach: »Ihr werdet alle Novizinnen werden, und die erste Lektion, die eine Novizin zu lernen hat, ist die, einer Aes Sedai zu gehorchen. Augenblicklich. Ohne Euch zu beklagen oder Ausflüchte zu gebrauchen.« Alanna stand unverändert mitten im Schankraum — für Verin zumindest — aber der Kopf des Trugbilds berührte die Deckenbalken. »Jetzt rennt! Wer sich nicht in seinem Zimmer befindet, wenn ich bis fünf gezählt habe, wird das bis zum Tag seines Todes bereuen. Eins. Zwei...« Bevor sie zur Drei kam, gab es ein irres, quiekendes Gedränge am Fuß der Treppe ganz hinten im Raum. Es war ein Wunder, daß keine niedergetrampelt wurde.
Alanna mußte gar nicht erst über die Vier hinauszählen. Als die letzten der Mädchen von den Zwei Flüssen nach oben verschwanden, ließ sie Saidar fahren; das Trugbild verschwand, und sie nickte kurz und befriedigt. Verin nahm an, jetzt müsse man sogar beachtliche Überredungskünste aufwenden, um eine von ihnen dazu zu bringen, auch nur einen Blick aus ihrem Zimmer zu werfen. Vielleicht war das auch gut so. Bei der Lage der Dinge wollte sie nicht, daß sich eine hinausschlich, um Caemlyn zu erkunden.
Selbstverständlich hatte Alanna auch darüber hinaus noch Wirkung hinterlassen. Es war notwendig, die Serviererinnen unter den Tischen hervorzulocken, wo sie sich versteckt hatten, und einer Frau, die beim Versuch, bis zur Küche zu kriechen, zusammengeklappt war, mußten sie wieder auf die Beine helfen. Sie gaben keinen Laut von sich und zitterten lediglich wie Blätter im Sturm. Verin mußte jede erst ein wenig anschubsen, damit sie sich in Bewegung setzten, und ihren Befehl in bezug auf den Brandy wiederholte sie dreimal, bis Azril aufhörte, sie anzustarren, als wachse ihr ein zweiter Kopf aus den Schultern. Dem Wirt war die Kinnlade fast bis auf die Brust heruntergeklappt, und die Augen fielen ihm beinahe aus dem Kopf. Verin sah zu Tomas hinüber und deutete auf den wankenden Mann.
Tomas warf ihr einen sarkastischen Blick zu — das tat er immer, wenn sie ihn irgendwelche niederen Arbeiten erledigen ließ, doch er stellte ihre Befehle nur selten in Frage —, dann legte er einen Arm um Meister Dilhams Schultern und schlug in jovialem Tonfall vor, gemeinsam ein paar Krüge seines besten Weines zu leeren. Ein guter Mann, dieser Tomas, und er konnte ganz überraschende Dinge vollbringen. Ihvon hatte sich hingesetzt, an eine Wand gelehnt und die Beine auf einen Tisch gelegt. Er brachte es fertig, gleichzeitig den Eingang von der Straße her und auch Alanna im Auge zu behalten. Alanna beobachtete er mit äußerster Vorsicht. Er behandelte sie noch fürsorglicher, seit Owein, ihr anderer Behüter, im Gebiet der Zwei Flüsse ums Leben gekommen war, und klugerweise auch mehr als nur vorsichtig, was ihre Launen betraf, auch wenn sie diese meist besser im Griff hatte als heute. Alanna selbst zeigte kein Interesse daran, das Durcheinander mit den anderen zu bereinigen, das sie angerichtet hatte. Sie stand in der Mitte des Schankraums, hatte die Arme verschränkt und blickte ins Leere. Jedem anderen als einer Aes Sedai mußte sie wie die Gestalt gewordene Würde vorkommen. Verin jedoch kam Alanna wie eine Frau vor, die kurz vor einem Wutausbruch stand.
Verin berührte ihren Arm. »Wir müssen uns unterhalten.« Alanna sah sie mit einem undurchschaubaren Blick an und glitt dann wortlos in Richtung des privaten Speisezimmers.
Hinter sich hörte Verin Meister Dilham mit zittriger Stimme sagen: »Glaubt Ihr, ich kann damit werben, daß der Wiedergeborene Drache Gast in meiner Schenke war? Er war schließlich da.« Einen kurzen Moment lächelte sie. Er würde also darüber hinwegkommen. Ihr Lächeln verflog jedoch, als sie die Tür hinter sich und Alanna schloß. Nun waren sie unter vier Augen.
Alanna tigerte bereits in dem kleinen Raum umher. Die Seide ihres Hosenrocks verursachte beim Ausschreiten ein Geräusch, als gleite ein Schwert aus der Scheide. Nun strömte ihre Miene keinerlei Würde mehr aus. »Die Frechheit dieses Mannes! Diese unglaubliche Frechheit! Uns hier einzusperren! Unsere Bewegungsfreiheit einzuschränken!«
Verin beobachtete sie ein paar Augenblicke lang, bevor sie etwas dazu sagte. Sie hatte zehn Jahre lang gebraucht, um über Balinors Tod hinwegzukommen und Ihvon an sich zu binden. Alanna war aufgewühlt gewesen, seit Owein gestorben war, und sie hatte alles viel zu lange nur in sich hineingefressen. Die paar Mal, die sie sich seit der Abreise von den Zwei Flüssen heimlich ausgeweint hatte, waren bei weitem nicht ausreichend gewesen. »Ich denke schon, daß er uns mit Wachen am Tor von der Innenstadt fernhalten kann, aber in Caemlyn festhalten kann er uns nicht.«
Das brachte ihr den vernichtenden Blick ein, den sie erwartet hatte. Sie könnten ohne große Schwierigkeiten abreisen — soviel Rand auch dazugelernt haben mochte, war die Wahrscheinlichkeit doch gering, daß er auf die Technik der Wachgewebe gestoßen war — aber das würde bedeuten, daß sie die Mädchen von den Zwei Flüssen zurücklassen müßten. Keine Aes Sedai hatte einen solchen Schatz wie den in den Zwei Flüssen gefunden, seit... Verin konnte sich gar nicht vorstellen, wie lange das her sein mußte. Möglicherweise nicht mehr seit den Trollockriegen. Sogar junge Frauen von achtzehn Jahren — und da hatten sie die Grenze gesetzt — fanden es oftmals unerträglich, die Einschränkungen auf sich zu nehmen, die eine Novizin erdulden mußte, doch härten sie diese Grenze auch nur um fünf Jahre hinausgeschoben, wären es bestimmt doppelt so viele geworden, wenn nicht mehr. Bei fünf dieser Mädchen — fünf! — war das Talent angeboren, Mats Schwester und Elle und die junge Janacy eingeschlossen, und sie würden irgendwann die Macht benützen, ob man es ihnen nun beibrachte oder nicht, und dann würden sie auch sehr stark werden. Sie und Alanna hatten alle diese Talente aufgespürt, und zwei weitere hatten sie noch zurückgelassen, um sie in einem Jahr abzuholen, wenn sie alt genug waren, um von zu Hause wegzugehen. Das war ohne weiteres möglich, denn die angeborenen Fähigkeiten zeigten sich für gewöhnlich erst, wenn die Mädchen etwa fünfzehn waren. Doch die anderen gaben bereits zu höchsten Erwartungen Anlaß, und zwar alle von ihnen. Die Zwei Flüsse stellten in dieser Hinsicht die reinste Goldader dar.
Jetzt, da sie die Aufmerksamkeit der anderen Frau erregt hatte, wechselte Verin das Thema. Sie hatte gewiß nicht die Absicht, diese jungen Frauen im Stich zu lassen. Genausowenig beabsichtigte sie, sich noch einmal weiter von Rand zu entfernen als unbedingt notwendig. »Glaubst du, daß er recht hat hinsichtlich der Rebellen?«
Alannas Hände verkrampften sich einen Augenblick lang in ihren Rock. »Die bloße Möglichkeit stößt mich ab! Sind wir wirklich so tief gesunken...?« Sie ließ die Worte verklingen, die ohnehin so hoffnungslos geklungen hatten. Die Schultern hingen ihr herunter. Tränen standen ihr in den Augen, und sie konnte sie nur mit Mühe zurückhalten.