»Wir brauchen niemandem um Händchen zu halten«, erwiderte Nynaeve schnippisch. Gut gebaut? Die bemalte Augenklappe kam ihr quälend in den Sinn, die und die Narben. Die Frau hatte wirklich einen eigenartigen Geschmack, was Männer betraf. »Wir werden mit allem fertig, was uns unterwegs zustoßen könnte. Ich denke, das haben wir hinreichend bewiesen, wenn es überhaupt noch eines Beweises bedurfte.«
»Das weiß ich auch, Nynaeve, aber wir werden die Schwierigkeiten anlocken wie der Abfallhaufen die Fliegen. Altara ist allmählich am Überkochen. Jeder Tag bringt neue Berichte von den Drachenverschworenen, und ich setze mein bestes Seidenkleid gegen einen deiner alten Unterröcke, daß die Hälfte davon lediglich Räuber sind, die vier Frauen ohne männlichen Schutz als leichte Beute betrachten würden. Wir werden jeden zweiten Tag den Beweis antreten müssen, daß wir keineswegs leichte Beute sind. Wie ich hörte, geht es in Murandy schlimmer zu. Das steckt voll von Drachenverschworenen und Banditen und Flüchtlingen aus Cairhien, und alle fürchten, der Wiedergeborene Drache könne sie jeden Tag erreichen und über sie herfallen. Ich nehme an, du hast nicht vor, den Fluß in Richtung Amadicia zu überqueren. Ich schätze, du willst nach Caemlyn.« Ihr kunstvoll geflochtener Zopf schaukelte leicht, als sie den Kopf neigte und eine Augenbraue fragend hochzog. »Bist du dir mit Elayne in bezug auf Uno einig?«
»Sie wird mir sicherlich recht geben«, knurrte Nynaeve.
»Aha. Na ja, wenn sie das tut, werde ich so viele Pferde besorgen, wie wir benötigen. Aber ich will, daß sie mir selbst sagt, warum wir Uno nicht mitnehmen sollten.«
Die unnachgiebige Entschlossenheit in ihrer Stimme ließ Nynaeves Gesicht vor Ärger erröten. Auch wenn sie Elayne noch so lieb darum bäte, Birgitte zu sagen, Uno solle hierbleiben, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie ihn wartend am Kreuzweg vorfinden würden, und Birgitte spielte vermutlich ganz erstaunt, weil er herausbekommen hatte, wohin sie reisen wollten. Die Frau mochte ja Elaynes Behüterin sein, doch manchmal fragte sich Nynaeve, welche von beiden in Wirklichkeit das Sagen habe. Sobald sie Lan fand, hatte sie vor, ihn die heiligsten Eide ablegen zu lassen, daß er sich an ihre Entscheidungen halten werde.
Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Es hatte keinen Zweck, gegen eine Mauer rennen zu wollen. Genausogut konnte sie allmählich zum eigentlichen Grund kommen, aus dem sie Birgitte aufgesucht hatte.
Scheinbar gleichgültig trat sie einen Schritt weiter in die enge Gasse hinein und zwang so die andere Frau, ihr zu folgen. Auf dem Boden waren welkbraune Stoppeln von dem Gestrüpp zurückgeblieben, das man beim Anlegen der Gasse entfernt hatte. Sie bemühte sich, gleichgültig zu erscheinen, und betrachtete das Menschengewühl auf der Straße. Nach wie vor schenkte man ihnen kaum Beachtung. Trotzdem senkte sie die Stimme: »Wir müssen unbedingt in Erfahrung bringen, was Tarna dem Saal mitteilt und was sie ihr antworten. Elayne und ich haben alles versucht, um sie zu belauschen, aber sie haben zu gute Schutzgewebe um die Versammlung gelegt. Allerdings nur solche mit Hilfe der Macht. Sie fürchten so sehr, jemand könne sie auf diese Art belauschen, daß sie ganz zu vergessen scheinen, was ein Ohr an der Tür aufschnappen kann. Sollte jemand sie...«
Birgitte unterbrach sie mit entschlossener Stimme: »Nein.«
»Überlege es dir doch wenigstens. Bei Elayne und mir ist die Wahrscheinlichkeit, daß man uns erwischt, zehnmal höher als bei dir.« Sie hätte beinahe noch hinzugefügt daß Elayne dabei doch sehr geschickt sei, ließ es aber sein, als Birgitte schnaubte.
»Ich habe nein gesagt! Du hast viele Rollen gespielt, seit ich dich kennenlernte, Nynaeve, aber töricht warst du doch nie! Licht, in ein oder zwei Tagen werden sie es ohnehin öffentlich bekanntgeben.«
»Wir müssen es aber jetzt wissen«, zischelte ihr Nynaeve zu, und sie konnte gerade noch ein ›du idiotisches Mannweib‹ unterdrücken. Töricht? Selbstverständlich hatte sie noch niemals töricht gehandelt! Sie durfte sich nicht aufregen. Sollte sie Elayne zur Abreise überreden können, würden sie sich in ein oder zwei Tagen nicht mehr hier befinden. Nein, am besten öffnete sie diesen Sack voll Schlangen nicht noch einmal.
Schaudernd — ein wenig übertrieben, wie Nynaeve fand — stützte sich Birgitte auf ihren Bogen. »Man hat mich einmal dabei erwischt, wie ich Aes Sedai belauschte. Drei Tage später haben sie mich an den Ohren gepackt und hinausgeworfen, und ich verließ Schaemal so schnell, wie ich nur ein Pferd auftreiben konnte. Das werde ich nicht noch einmal durchmachen, nur, um für euch einen einzigen Tag zu gewinnen, den ihr nicht benötigt.«
Nynaeve bewahrte Ruhe. Sie bemühte sich sogar, eine gelassene Miene zur Schau zu tragen und keinesfalls mit den Zähnen zu knirschen oder an ihrem Zopf zu reißen. Sie war ganz ruhig. »Ich habe noch nie in einer Geschichte vernommen, daß du einmal Aes Sedai belauscht hättest.« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, hätte sie sie auch schon am liebsten zurückgerufen. Birgittes Geheimnis lag eben darin, daß sie wirklich die Birgitte der Legenden war. Nichts, was diese Verbindung verraten konnte, durfte jemals erwähnt werden.
Einen Augenblick lang wirkte Birgittes Gesicht wie versteinert und verbarg so all ihre Gefühle. Es reichte, um Nynaeve schaudern zu lassen. Im Geheimnis der anderen Frau lag zuviel Schmerzliches verborgen. Schließlich wurde wieder Fleisch und Blut aus dem Stein, und Birgitte seufzte. »Die Zeit ändert vieles. Ich kann selbst die Ursprünge der Hälfte dieser Legenden kaum noch erkennen, und die andere Hälfte kommt mir vollkommen fremd vor. Wir sollten nicht mehr davon sprechen.« Letzteres war eindeutig nicht bloß als Vorschlag gemeint.
Nynaeve öffnete den Mund, ohne eigentlich zu wissen, was sie sagen wollte. Sie schuldete es Birgitte, ihren Schmerz nicht auch noch zu schüren, aber gleich zwei so simple Bitten abzulehnen...! Und plötzlich erklang die Stimme einer dritten Frau von der Ecke zur Gasse her: »Nynaeve, Janya und Delana wollen Euch augenblicklich sprechen.«
Nynaeve wäre fast in die Luft gegangen, so überrascht war sie, und ihr Herz setzte einen Moment lang aus.
An der Ecke stand Nicola in ihrem Novizinnenkleid, und auch sie blickte nun einen Augenblick lang verblüfft ob der Wirkung ihrer Worte drein. Genau wie auch Birgitte, doch die wandte sich schnell einer amüsierten Betrachtung ihres Bogens zu.
Nynaeve mußte zweimal schlucken, bevor sie auch nur ein Wort herausbrachte. Wieviel hatte die Frau gehört? »Falls Ihr glaubt, auf diese Art mit einer Aufgenommenen sprechen zu können, solltet Ihr schnell dazulernen, sonst wird man Euch bessere Umgangsformen beibringen.«
Das war ganz die Art von Antwort, die man von einer Aes Sedai erwarten konnte, doch die dunklen Augen der schlanken Frau musterten Nynaeve nachdenklich. »Es tut mir leid, Aufgenommene«, sagte sie und knickste dabei. »Ich werde mich bemühen, mich das nächste Mal in acht zu nehmen.«
Der Knicks war genauso tief, wie er für eine Aufgenommene sein sollte, bis auf den Fingerbreit, und falls ihr Tonfall als kühl zu bezeichnen war, dann doch noch in einem Rahmen, für den sie nicht zu tadeln war. Areina war nicht ihre einzige Reisegefährtin gewesen, die voller Enttäuschung die Wahrheit über Nynaeve und Elayne erfahren hatte, doch Nicola war einverstanden gewesen, ihr Geheimnis zu wahren, und sie hatte sich verhalten, als überrasche es sie, daß die beiden es überhaupt für nötig gehalten hatten, sie darum zu bitten. Danach, als nämlich die Überprüfung ergeben hatte, daß auch sie lernen konnte, mit der Macht umzugehen, hatte sie sich diesen abschätzenden Blick angewöhnt.