»Ein Ausrutscher«, sagte Carlinya mit kälterer Stimme als sonst üblich, »und wir enden alle mit unseren Köpfen auf Spießen.«
»Aber wer wird sie aufspießen?« fragte Anaiya nachdenklich. »Elaida, der Saal, oder Rand al'Thor?«
Das Schweigen dehnte sich, Röcke raschelten, und dann öffnete und schloß sich die Tür wieder.
Nynaeve wagte einen kurzen Blick. Der Raum war leer. Sie gab einen ächzenden Laut von sich. Daß sie vorhatten, zu warten, tröstete sie wohl, doch die endgültige Antwort konnte immer noch alles bringen. Anaiyas Bemerkung hatte ihr gezeigt, daß sie nach wie vor Rand genauso reserviert gegenüberstanden wie Elaida. Vielleicht sogar noch mehr. Elaida versammelte schließlich keine Männer um sich, die mit der Macht umgehen konnten. Und wer war dieses ›beeinflußbare Kind‹? Nein, das war unwichtig. Sie konnten fünfzig verschiedene Intrigen am Kochen haben, von denen sie keine Ahnung hatte.
Das Wachgewebe erlosch und Nynaeve erschrak. Es war höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Sie rappelte sich schnell hoch und klopfte sich mit lebhaften Bewegungen den Staub von den Knien, als sie sich von der Hauswand entfernen wollte. Doch es reichte nur zu einem Schritt. Dann blieb sie stocksteif stehen, gebückt, die Hände noch an den verschmutzten Stellen ihres Rocks, und blickte Theodrin in die Augen.
Die Domanifrau mit den Apfelbäckchen erwiderte ihren Blick und sagte kein Wort.
Nynaeve überlegte fieberhaft, verwarf aber die dumme Behauptung, sie habe am Boden nach einem verlorenen Gegenstand gesucht. Statt dessen richtete sie sich auf und schritt gemächlich an der anderen Frau vorbei, als gebe es nichts zu erklären. Theodrin ging schweigend neben ihr her, die Hände auf Hüfthöhe gefaltet. Nynaeve überlegte, welche Möglichkeiten sie habe. Sie konnte Theodrin eins über den Kopf verpassen und wegrennen. Sie konnte auf die Knie fallen und betteln. Beide Möglichkeiten erschienen ihr nicht besonders gut, sie war aber nicht in der Lage, einen anderen Ausweg zu finden.
»Habt Ihr die Ruhe bewahrt?« fragte Theodrin und blickte dabei stur geradeaus.
Nynaeve fuhr wieder zusammen. Das war der Rat gewesen, den ihr die andere Frau erst gestern gegeben hatte, nachdem sie versucht hatte, ihren eigenen Block mit Gewalt zu brechen. Bewahrt die Ruhe; bleibt sehr ruhig; denkt nur ruhige, beherrschte Gedanken. »Natürlich.« Ein schwächliches Lachen begleitete ihre Worte. »Was hätte mich hier auch aufregen können?«
»Das ist gut«, sagte Theodrin ernst. »Heute will ich eine etwas ... direktere Methode anwenden.«
Nynaeve sah sie an. Keine Fragen? Keine Beschuldigungen? So, wie sich dieser Tag entwickelt hatte, konnte sie kaum glauben, so leicht davonzukommen.
Sie blickte nicht zu dem Steingebäude zurück, und so bemerkte sie auch nicht die Frau, die sie und Theodrin von einem Fenster im zweiten Stock aus beobachtete.
13
Unter dem Staub
Nynaeve fragte sich, ob sie ihren Zopf ausflechten solle, während sie unter einem rotgestreiften Handtuch hervor ihr Kleid und den Unterrock anschaute, die über Stuhllehnen hingen und auf die sauber gefegten Bohlen des Fußbodens tropften. Ein weiteres um sie gewickeltes Handruch, grün und weiß gestreift und um einiges größer als das andere, diente ihr im Moment als Bekleidung. »Jetzt wissen wir also, daß auch ein Schock nichts hilft«, grollte sie Theodrin an, und sofort mußte sie aufstöhnen. Ihr Unterkiefer schmerzte, und ihre Wange brannte noch immer. Theodrin hatte schnelle Reflexe und einen kräftigen Arm. »Ich kann jetzt gerade die Macht lenken, aber für einen Augenblick war vorhin Saidar das allerletzte, was ich im Sinn hatte.« In jenem durchnäßten Moment des Nach-Luft-Schnappens, als sie die Gedanken flohen und der reine Instinkt durchbrach.
»Dann benützt die Macht, um Eure Sachen zu trocknen«, knurrte Theodrin.
Nynaeves Kinn schmerzte gleich nicht mehr so sehr, als sie beobachtete, wie Theodrin in eine dreieckige Spiegelscherbe blickte und nach ihrem Auge fühlte.
Die Haut wirkte bereits leicht geschwollen, und Nynaeve erwartete, daß sich dies zu einem ausgesprochen auffallenden Blauen Auge entwickeln werde, falls es nicht behandelt wurde. Ihr Arm war keineswegs so schwächlich, und ein Blaues Auge hatte Theodrin allemal verdient!
Vielleicht war die Domani der gleichen Ansicht, denn sie seufzte: »Das versuche ich nicht noch einmal. Aber wie auch immer, ich werde Euch beibringen, Euch Saidar zu öffnen, ohne vorher so wütend zu sein, daß Ihr statt dessen die Macht beißen könntet.«
Nynaeve blickte mit finsterer Miene auf ihre durchnäßte Kleidung und überlegte eine Weile. Sie hatte noch nie so etwas unternommen. Ihre Hemmung, Alltagsarbeiten mit Hilfe der Macht zu erledigen, war sehr stark ausgeprägt, und das aus gutem Grund. Saidar war verführerisch. Je mehr man die Macht benützte, desto häufiger wollte man sie benützen, und desto größer war die Gefahr, eines Tages zuviel an sich zu reißen und sich damit umzubringen oder auszubrennen. Die Süße der Wahren Quelle erfüllte sie mittlerweile ganz und gar. Dafür hatte Theodrins Eimer Wasser gesorgt, obwohl die restliche Arbeit des Vormittags vergebens gewesen war. Ein simples Gewebe aus dem Element Wasser zog alle Feuchtigkeit aus ihrer Kleidung und ließ sie auf den Boden plätschern, wo sie sich in Form einer immer größer werdenden Pfütze ausbreitete und das ergänzte, was von Theodrins Eimerladung noch übrig war.
»Ich ergebe mich eben nicht so schnell«, sagte sie.
Es sei denn, ein Kampf wäre aussichtslos. Nur ein Narr machte weiter, wenn er gar keine Chance mehr hatte. Sie konnte unter Wasser nicht atmen, sie konnte nicht fliegen, indem sie mit den Armen ruderte, und sie konnte die Macht nicht benützen, wenn sie nicht wütend war.
Theodrin wandte ihren finsteren Blick von der Pfütze ab und Nynaeve zu und stemmte die Fäuste entschlossen in die schmalen Hüften. »Das ist mir nur zu bewußt«, sagte sie in etwas zu ruhigem Tonfall. »Allen Lehrmeinungen nach solltet Ihr überhaupt nicht in der Lage sein, die Macht zu lenken. Mir hat man beigebracht, ich müsse ruhig sein, um mit der Macht zu arbeiten, innerlich kühl und ernst, offen und absolut empfangsbereit.« Das Glühen Saidars umgab sie und Stränge aus Wasser zogen die Pfütze zu einer Wasserkugel zusammen, die völlig deplaziert auf dem Boden lag. »Ihr müßt Euch der Macht ergeben, bevor Ihr sie lenken könnt. Aber bei Euch, Nynaeve... So sehr Ihr Euch auch bemüht, Euch hinzugeben — und ich habe wohl bemerkt, daß Ehr Euch bemüht —klammert Ihr Euch doch fest, bis Ihr wütend genug seid, um Euren Instinkt zu überwinden,« Stränge aus Luft hoben die wabbelnde Wasserkugel hoch. Einen Augenblick lang glaubte Nynaeve, die Frau wolle die Kugel nach ihr werfen, doch dann schwebte sie quer durch das Zimmer und zu dem geöffneten Fenster hinaus. Es gab ein gewaltiges Platschen, als sie auf dem Boden aufschlug, und eine Katze jaulte überrascht auf. Vielleicht galten alle Einschränkungen nicht mehr, wenn man sich auf Theodrins Stufe befand.
»Warum belaßt Ihr es nicht einfach dabei?« Nynaeve bemühte sich, in heiterem Plauderton zu sprechen, aber das klang auch in ihren Ohren nicht ganz echt. Sie wollte schließlich die Macht gebrauchen können, wann immer sie es wünschte. Aber wie schon das Sprichwort sagt: ›Wenn Wünsche Flügel wären, könnten auch Schweine fliegen. ‹ »Es ist überflüssig, soviel Energie zu verschwenden...«
»Hört auf damit«, sagte Theodrin, als Nynaeve versuchte, das Wassergewebe bei ihrem Haar anzuwenden, um es zu trocknen. »Laßt Saidar fahren und es auf natürliche Art trocknen. Und zieht Euch wieder an,«
Nynaeve kniff die Augen zusammen. »Ihr habt doch wohl nicht noch eine Überraschung für mich, oder?«
»Nein. Nun fangt an, Euren Geist vorzubereiten. Ihr seid eine Blütenknospe, die die Wärme der Quelle spürt und sich bereitmacht, sich der Quelle zu öffnen. Saidar ist der Fluß, und Ihr seid das Ufer. Der Fluß ist mächtiger als das Ufer, doch das Ufer hält und leitet ihn. Entleert Euren Geist bis auf die Knospe. Nichts ist mehr in Euren Gedanken als diese Knospe. Ihr seid die Knospe...«