Nynaeve zog den Unterrock über den Kopf und seufzte, als Theodrins Stimme mit ihrem hypnotischen Gemurmel fortfuhr. Übungen für Novizinnen. Falls die bei ihr irgendwelche Wirkung hätten, wäre sie schon lange in der Lage, die Macht nach Belieben zu benützen. Sie sollte damit aufhören und lieber das tun, wozu sie in der Lage war, wie beispielsweise Elayne zu überzeugen, daß sie nach Caemlyn mußten. Aber andererseits wünschte sie sich, daß Theodrin recht behalten werde, und wenn sie dazu auch zehn Eimer voll Wasser benötigte. Aufgenommene liefen nicht davon und widerstrebten auch nicht. Sie haßte es noch mehr, wenn man ihr sagte, was sie nicht vollbringen konnte, als zu hören, was sie zu tun habe.
Stunden vergingen. Mittlerweile saßen sie sich an einem Tisch gegenüber, der wirkte, als entstamme er der Ruine eines Bauernhauses. In diesen Stunden hatten sie endlose Übungen absolviert, die vermutlich zur gleichen Zeit von Novizinnen vollbracht wurden. Die Blütenknospe und das Ufer. Die Sommerbrise und der plätschernde Bach. Nynaeve versuchte, sich in einen Löwenzahnsamen zu versetzen, der im Wind umhertrieb, in die Erde, die den Frühlingsregen in sich aufsog, und in eine Wurzel, die sich durch den Boden grub. Alles ohne Wirkung, jedenfalls ohne die Wirkung, auf die Theodrin hoffte. Sie schlug sogar vor, Nynaeve solle sich vorstellen, in den Armen eines Liebhabers zu liegen, was sich als katastrophal herausstellte, da sie wieder an Lan denken mußte, und wie konnte er es wagen, auf diese Weise zu verschwinden! Doch jedesmal, wenn die Verbitterung den Zorn auslöste wie eine heiße Kohle das Feuer im trockenen Gras und damit Saidar für sie erreichbar machte, befahl Theodrin ihr loszulassen, und dann begann sie erneut auf ihre beruhigende, kühle Art. Die sture Weise, auf die diese Frau ihrem Ziel zustrebte, machte sie verrückt. Nynaeve hatte das Gefühl, sie könne selbst Mauleseln noch lehren, störrisch zu sein. Sie zeigte niemals Unwillen und ihre ernste Würde war schon eine Kunstform für sich. Nynaeve hätte gern einen Eimer Wasser über ihren Kopf geleert, um zu sehen, wie ihr das gefiel. Allerdings mußte sie dabei an den Schmerz in ihrem Kiefer denken, und dann kam ihr die Idee doch nicht mehr so gut vor.
Theodrin heilte den Kiefer mit Hilfe der Macht, bevor Nynaeve ging. Das war annähernd die Obergrenze der Heilerfähigkeiten der Aes Sedai. Einen Moment später half Nynaeve dann auch ihr. Theodrins Auge hatte sich leuchtend rotblau verfärbt, und eigentlich hätte sie ihr das lieber als Warnung gelassen, damit sie sich in Zukunft überlegte, was sie tat, aber nun mußte sie sich wohl oder übel revanchieren. Theodrins Aufstöhnen, als die Stränge aus Geist, Luft und Wasser ihren Körper durchdrangen, war durchaus eine Genugtuung. Schließlich hatte sie ganz gewaltig nach Luft schnappen müssen, als die Domani ihr den Eimer Wasser über den Kopf geleert hatte. Natürlich durchlief auch sie ein Schauder während der Heilung, aber man konnte eben nicht alles haben.
Draußen war die Sonne bereits auf halbem Weg zum westlichen Horizont. Ein Stück weit die Straße hinunter durchlief eine Welle von Verbeugungen und Knicksen die Menge der Passanten, und dann öffnete sich das gedrängte Durcheinander, und Tarna Feir erschien.
Sie glitt dahin wie eine Königin durch einen Schweinestall und hatte die rotgefranste Stola wie ein leuchtendes Banner um die Oberarme geschlungen. Selbst auf fünfzig Schritt Entfernung war ihre Haltung eindeutig zu erkennen, so, wie sie den Kopf hielt und ihren Rock hochraffte, damit er den Straßenstaub nicht berührte, und wie sie sogar jene nicht beachtete, die vor ihr knicksten, als sie vorbeischritt. Am ersten Tag waren es noch viel weniger Knickse gewesen und viel mehr feindselige Blicke, doch eine Aes Sedai war eine Aes Sedai, jedenfalls bei den Schwestern in Salidar. Um das zu unterstreichen, waren mittlerweile zwei Aufgenommene, fünf Novizinnen und beinahe ein Dutzend Diener und Dienerinnen in ihrer Freizeit bei der Arbeit, Küchenabfälle und die Inhalte von Nachttöpfen zum Wald hinauszukarren und dort zu vergraben.
Als sich Nynaeve wegschlich, um von Tarna nicht gesehen zu werden, grollte ihr Magen so laut, daß ihr ein vorbeischreitender Kerl mit einem Korb Zwiebeln auf dem Rücken einen erstaunten Blick zuwarf. Sie hatten das Frühstück versäumt, als Elayne versucht hatte, das Wachgewebe zu durchdringen, und das Mittagessen war nach Theodrins Übungen längst vorüber. Und die Frau hatte ihr heute noch nicht genug angetan. Nach Theodrins Anweisungen durfte sie nämlich heute nacht nicht schlafen. Vielleicht würde die Erschöpfung das vollbringen, was ein plötzlicher Schreck nicht ausgelöst hatte. Jeder Block kann durchbrochen werden, hatte Theodrin mit ungebrochenem Selbstvertrauen in der Stimme verkündet, und ich werde Euren durchbrechen. Es muß nur ein einziges Mal geschehen. Nur einmal ohne Zorn mit Saidar arbeiten, und die Macht ist Euer!
Im Augenblick jedoch wollte Nynaeve nur eines, nämlich etwas zum Essen. Die Küchenmägde waren bereits beim Aufräumen und beinahe fertig, doch der Duft nach Hammeleintopf und Schweinebraten, der noch in den Küchenräumen hing, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie mußte sich allerdings mit zwei armseligen Äpfeln, einem Brocken Ziegenkäse und einem harten Stück Brot zufriedengeben. Der Tag wurde auch nicht besser.
In ihr Zimmer zurückgekehrt, fand sie Elayne vor, die der Länge nach ausgestreckt auf ihrem Bett lag. Die jüngere Frau blickte sie an, ohne den Kopf zu heben, rollte kurz mit den Augen und sah wieder zu dem rissigen Verputz der Decke hoch. »Ich habe einen furchtbaren Tag hinter mir, Nynaeve«, seufzte sie. »Escaralde besteht darauf, einen Ter'Angreal herstellen zu wollen, obwohl sie nicht die Kraft dazu hat, und Varilin hat irgend etwas angestellt — ich weiß nicht, was — und der Stein, mit dem sie arbeitete, verwandelte sich in eine ... nun, man kann es nicht ganz als Flammenkugel bezeichnen, aber ... und das in ihren Händen. Wäre Dagdara nicht gewesen, wäre sie meiner Meinung nach gestorben, denn niemand sonst unter uns Anwesenden konnte sie heilen, und die Zeit reichte nicht aus, um jemanden herbeizurufen. Und dann habe ich über Marigan nachgedacht. Wenn wir schon nicht lernen können, festzustellen, ob ein Mann die Macht benützt hat, können wir vielleicht aufspüren, was er getan hat! Ich glaube mich erinnern zu können, daß Moiraine diese Möglichkeit erwähnt hat. Ich bilde es mir zumindest ein. Jedenfalls habe ich darüber nachgegrübelt, und dann berührte mich jemand an der Schulter und ich schrie, als habe man mich mit einer Nadel gestochen. Dabei war es nur irgendein armer Fuhrmann, der mich wegen eines dieser törichten Gerüchte fragen wollte. Ich habe ihn so erschreckt, daß er fast weggerannt wäre.«
Endlich holte sie Luft, und Nynaeve gab die Absicht auf, der Frau ihren letzten Apfelbutzen an den Kopf zu werfen; statt dessen fragte sie schnell in die momentane Stille hinein: »Wo steckt Marigan?«
»Sie war mit Putzen und Aufräumen fertig — hat sich ganz schön Zeit damit gelassen — und ich habe sie auf ihr Zimmer geschickt. Ich trage schließlich noch das Armband. Schau!« Sie hob ihren Arm kurz und ließ ihn wieder auf die Matratze fallen, doch ihr Redeschwall verringerte sich keineswegs. »Sie hat wieder so furchtbar gewinselt, wir müßten unbedingt nach Caemlyn gehen, und das konnte ich keine Minute länger ertragen, schon gar nicht nach all den anderen Strapazen. Mein Unterricht bei den Novizinnen war eine einzige Katastrophe. Diese furchtbare Keatlin — die mit der langen Nase — hat immer wieder gemeckert, zu Hause habe sie sich niemals von einem Mädchen herumkommandieren lassen, und Faolain kam herbeistolziert und wollte wissen, wieso Nicola in meinem Unterricht sei — wie konnte ich denn ahnen, daß Nicola für sie Botengänge machen sollte? — und dann entschloß sich Ibrella, auszuprobieren, wieviel Feuer sie bereits erzeugen könne, und beinahe hätte sie die ganze Gruppe versengt, und Faolain hat mich vor versammelter Klasse heruntergeputzt, daß ich bei meinen Schülerinnen keine Disziplin halten könne, und Nicola sagte daraufhin, sie...«