»Ach. Beleidigt, oder? Warum? Weil ich Euch als ›Wilde‹ bezeichnet habe? Ihr müßt wissen, daß auch ich eine Wilde war. Galina Casban persönlich hat meinen Block gebrochen. Sie kannte meine künftige Ajah lange vor mir selbst und hat sich für mich eingesetzt. Das tut sie immer, wenn sie glaubt, eine Frau werde die Roten Ajah erwählen.« Sie schüttelte lachend den Kopf, doch ihre Augen stachen wie gefrorene Messer. »Die Stunden, in denen ich heulte und weinte, bevor ich Saidar berühren konnte, ohne die Augen zu schließen. Man kann nicht weben, wenn man die Stränge nicht sieht. Wie ich hörte, gebraucht Theodrin bei Euch sanftere Methoden.«
Nynaeve trat unwillkürlich von einem Fuß auf den anderen. Theodrin würde doch sicher nicht zu solchen Maßnahmen greifen? Bestimmt nicht. Sie versteifte ihre Knie, aber das ließ das Flattern in ihrem Bauch nicht erlahmen. Also durfte sie nicht beleidigt sein, oder? Sollte sie auch das ›Verkrüppelt‹ unbeachtet lassen? »Worüber wolltet Ihr mit mir sprechen, Aes Sedai?«
»Die Amyrlin möchte Elayne in Sicherheit wissen, aber in gewisser Weise seid Ihr genauso wichtig. Vielleicht noch wichtiger Was in Eurem Kopf in bezug auf Rand al'Thor schlummert, könnte sich als unschätzbar erweisen. Und das, was Egwene al'Vere weiß. Habt Ihr eine Ahnung, wo sie sich aufhält?«
Nynaeve hätte sich gern den Schweiß vom Gesicht gewischt, doch sie zwang ihre Hände zur Ruhe. »Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen, Aes Sedai.« Es war schon Monate her, seit sie sich zum letzten Mal in Tel'aran'rhiod getroffen hatten. »Darf ich fragen, was...« Niemand in Salidar bezeichnete Elaida als die Amyrlin, aber sie sollte wohl dieser Frau gegenüber die Höflichkeit wahren. »...die Amyrlin in bezug auf Rand zu unternehmen gedenkt?«
»Gedenkt, Kind? Er ist der Wiedergeborene Drache. Das weiß die Amyrlin auch, und sie gedenkt, ihm alle Ehren zuteil werden zu lassen, die ihm gebühren.« Eine Andeutung von Eindringlichkeit schlich sich in Tarnas Stimmen. »Denkt doch nach, Kind. Die hier werden zur Herde zurückkehren, sobald ihnen einmal dämmert, was sie da wirklich tun, doch inzwischen könnte sich jeder Tag als lebenswichtig herausstellen. Dreitausend Jahre lang hat die Burg Herrscher angeleitet; ohne sie hätte es mehr und noch schlimmere Kriege gegeben. Wenn al'Thor diese Führung nicht erhalt, steht die Welt vor einer großen Katastrophe. Aber man kann nicht führen, was man gar nicht kennt, genausowenig, wie ich die Macht gebrauchen kann, wenn ich die Augen schließe. Das Beste für ihn wäre, wenn Ihr mit mir zurückreist und Eure Kenntnisse über ihn der Amyrlin zuteil werden laßt, und zwar jetzt — nicht erst in Wochen oder Monaten. Das wäre auch für Euch selbst das beste. Hier könnt Ihr nicht zur Aes Sedai erhoben werden. Die Eidesrute befindet sich in der Burg. Die Prüfung kann nur in der Burg stattfinden.«
Der Schweiß rann Nynaeve in die Augen, doch sie widerstand dem Drang zu blinzeln. Glaubte die Frau etwa, sie ließe sich bestechen? »Um die Wahrheit zu sagen, habe ich nie viel Zeit mit ihm verbracht. Seht Ihr, ich habe im Dorf gewohnt und er auf einem Bauernhof im Westwald. Er machte den Eindruck eines Jungen, der niemals auf Vernunft hören wollte. Man mußte ihn zu dem drängen, was er tun sollte, oder ihn aber dazu herschleifen. Sicher, damals war er nur ein Junge. Nach alledem zu schließen, was ich weiß, könnte er sich geändert haben. Die meisten Männer sind wohl nur übergroße Jungen, aber er könnte sich geändert haben.«
Eine Weile lang sah Tarna sie lediglich an, und das mit diesem eisigen Blick. »Aha«, sagte sie schließlich und stand mit einer so geschmeidigen Bewegung auf, daß Nynaeve beinahe zurückgetreten wäre, obwohl in dieser winzigen Kammer gar kein Platz war, um auch nur einen Schritt rückwärts zu tun. Dieses beunruhigende Lächeln lag immer noch auf den Zügen der anderen Frau. »Welche eigenartige Gruppe von Menschen, die hier versammelt ist. Ich habe keine von beiden zu Gesicht bekommen, aber wie ich hörte, beehren Siuan Sanche und Leane Sharif Salidar mit ihrer Anwesenheit. Nicht gerade die Sorte von Mensch, mit der eine weise Frau verkehren sollte. Und dann vielleicht auch noch andere außergewöhnliche Leute? Es wäre wirklich besser für Euch, Ihr kämt mit mir. Ich reise am Morgen ab. Laßt mich heute abend wissen, ob ich Euch an der Straße erwarten soll.«
»Ich fürchte... «
»Denkt darüber nach, Kind. Dies könnte sich als die wichtigste Entscheidung Eures Lebens erweisen. Überlegt es Euch sehr genau.« Die liebenswürdige Maske verschwand, und Tarna rauschte aus dem Zimmer.
Nynaeve gaben die Knie nach, und sie sank auf ihr Bett. Die Frau löste einen derartigen Sturm der Gefühle in ihr aus, daß sie nicht wußte, wie sie all das bewältigen sollte. Nervosität und Zorn rangen in ihr mit einer überschäumenden Freude. Sie wünschte, die Rote habe Gelegenheit, sich irgendwie mit den Aes Sedai in der Burg zu verständigen, die nach Rand suchten. Oh, wie gern wäre sie eine Fliege an der Wand, wenn sie versuchten, ihre angebliche Einschätzung Rands gegen ihn zu benützen. Versuchte doch glatt, sie zu bestechen! Versuchte auch noch, sie einzuschüchtern! Und hatte auch noch recht guten Erfolg damit gehabt. Tarna war sich so sicher, daß die Aes Sedai schließlich vor Elaida die Knie beugen würden. Für sie schien das beschlossene Sache, und nur der Zeitpunkt stellte eine Unsicherheit dar. Und war das eine Andeutung in bezug auf Logain gewesen? Nynaeve vermutete, Tarna wisse erheblich mehr über Salidar, als die Burg oder Sheriam ahnten. Möglicherweise besaß Elaida hier Anhänger.
Nynaeve erwartete jeden Moment Elaynes Rückkehr, doch als eine halbe Stunde vorüber war, ohne daß sie erschien, machte sie sich auf die Suche nach ihr. Zuerst schritt sie die Straßen ruhig ab, doch bald trabte sie voran, brach aber gelegentlich ab, um auf die Deichsel eines Karrens zu steigen oder auf ein umgestülptes Faß oder einen steinernen Begrenzungspfosten, und spähte über die Köpfe der Menge hinweg. Die Sonne war schon so tief gesunken, daß sie bereits dicht über den Baumwipfeln stand, als sie schließlich unter mürrischen Selbstgesprächen zu ihrem Zimmer zurückstolzierte. Dort fand sie Elayne vor, die offensichtlich gerade angekommen war.
»Wo bist du gewesen? Ich habe schon geglaubt, Tarna hätte dich irgendwo verschnürt hinterlassen!«
»Ich habe die hier von Siuan geholt.« Elayne öffnete die Faust. Zwei der verdrehten Steinringe lagen in ihrer Hand.
»Ist einer davon der echte? Es war eine gute Idee, sie zu holen, aber du hättest versuchen sollen, den echten mitzubringen.«
»Ich habe meine Meinung nicht geändert, Nynaeve. Ich bin immer noch der Meinung, wir sollten hierbleiben.«
»Tarna...«
»Hat mich nur um so mehr darin bestärkt. Sollten wir gehen, dann werden Sheriam und der Saal mit Gewißheit die Einheit der Burg über Rand stellen. Ich weiß das einfach.« Sie legte die Hände auf Nynaeves Schultern, und Nynaeve ließ sich von ihr auf das Bett hinunterdrücken. Elayne setzte sich ihr gegenüber und beugte sich eindringlich nach vorn. »Erinnerst du dich daran, was du mir gesagt hast, wenn man ein starkes Bedürfnis benutzt, um in Tel'aran'rhiod etwas Bestimmtes aufzuspüren? Was wir brauchen, ist eine Methode, den Saal davon zu überzeugen, daß sie nicht zu Elaida zurückkehren dürfen.«
»Aber wie? Wenn Logain dazu nicht ausreicht...«
»Wir werden wissen, was es ist, wenn wir es finden«, sagte Elayne mit Entschlossenheit in der Stimme.
Nynaeve fühlte geistesabwesend nach ihrem unterarmdicken Zopf. »Bist du bereit wegzugehen, falls wir nichts finden? Mir gefällt der Gedanke daran nicht gerade, hier herumzusitzen, bis sie sich entschließen, uns unter Bewachung zu stellen.«