»Ich bin einverstanden, daß wir abreisen, vorausgesetzt du bist einverstanden, daß wir hierbleiben, falls wir etwas Nützliches finden. Nynaeve, so gern ich ihn auch Wiedersehen möchte — wir können hier mehr ausrichten!«
Nynaeve zögerte, bevor sie schließlich knurrte: »Einverstanden.« Es schien kein großes Risiko zu sein. Ohne die geringste Ahnung, was sie eigentlich suchen sollten, konnte sie sich nicht vorstellen, etwas zu finden.
Wenn der Tag zuvor bereits voranzuschleichen schien, dann kroch er jetzt nur noch vorwärts. Sie stellten sich an einer der öffentlichen Küchen an, um Teller mit Schinkenscheiben, Zwiebeln und Erbsen zu erhalten. Es schien ihnen, als ruhe die Sonne stundenlang auf den Baumwipfeln. Die meisten Einwohner Salidars gingen mit der Sonne ins Bert, doch in den Fenstern leuchteten ein paar Lichter auf, vor allem in denen des größten Gebäudes. Der Saal gab heute abend ein Festbankett für Tarna. Fetzen von Harfenklängen trieben gelegentlich von der früheren Schenke herüber. Die Aes Sedai hatten unter den Soldaten einen mehr oder weniger guten Harfner aufgetrieben, ihn rasieren lassen und in eine Art Livree gesteckt. Menschen, die an der Schenke vorüberschritten, warfen kurze Blicke hinüber, bevor sie weiterhasteten, oder sie ignorierten das Gebäude so betont, daß sie vor Anstrengung fast schon bebten. Wieder einmal stellte Gareth Bryne die große Ausnahme dar. Er nahm seine Mahlzeit im Sitzen auf einer Holzkiste mitten auf der Straße ein.
Jede aus dem Saal, die durch eines der Fenster blickte, mußte ihn sehen. Langsam, unendlich langsam glitt die Sonne hinter die Bäume. Die Dunkelheit kam plötzlich, fast ohne nennenswerte Dämmerung, und die Straßen leerten sich. Das Lied des Harfners begann wieder von vorn. Immer noch saß Gareth Bryne auf seiner Kiste im Lichtschein vom Bankettsaal her. Nynaeve schüttelte den Kopf. Sie wußte nicht, ob sie ihn für einen Draufgänger oder für einen Narren halten sollte. Er hatte wohl von beidem etwas an sich, wie sie vermutete.
Erst, als sie im Bett lag, mit dem gesprenkelten, steinernen Ter'Angreal an der gleichen Kordel am Hals wie den schweren, goldenen Siegelring Lans, und als die Kerze ausgeblasen war, erinnerte sie sich wieder an Theodrins Anweisungen. Na ja, dafür war es nun zu spät. Theodrin würde ohnehin nicht erfahren, ob sie schlief oder nicht. Wo mochte Lan nur stecken?
Elaynes Atmen verlangsamte sich. Nynaeve kuschelte sich mit einem leichten Seufzer an ihr kleines Kopfkissen, und...
...dann stand sie am Fuß ihres leeren Betts und erblickte eine durchscheinende Elayne im diffusen Lichtschein der Nacht in Tel'aran'rhiod. Keiner würde sie hier sehen. Sheriam oder eine aus ihrem Kreis könnte sich in der Welt der Träume aufhalten, oder auch Siuan oder Leane. Sicher, sie beide hatten ein Recht darauf, diese Welt zu besuchen, doch auf ihrer heutigen Suche wollten sie keine unangenehmen Fragen beantworten. Elayne betrachtete diesen Ausflug offensichtlich als Jagd. Bewußt oder nicht, jedenfalls hatte sie sich wie Birgitte gekleidet: grüner Umhang und weiße Hose. Sie blinzelte überrascht den silbernen Bogen in ihrer Hand an, und er verschwand, zusammen mit dem Köcher.
Nynaeve sah sich ihre eigene Kleidung an und seufzte: Ein blauseidenes Ballkleid, mit goldenen Blumen rund um die tiefen Ausschnitt herum bestickt. Die Stickereien zogen sich in Doppellinien den ganzen weiten Rock hinunter. An den Füßen spürte sie Tanzschuhe aus Samt. Es spielte eigentlich keine Rolle, was man in Tel'aran'rhiod anhatte, doch was hatte sie nur im Sinn gehabt, als ihr Unterbewußtsein ausgerechnet dieses Kleid erwählte? »Dir ist doch klar, daß dies vielleicht erfolglos bleiben wird?« sagte sie und änderte ihre Kleidung zu einem robusten Wollkleid mit festen Schuhen, wie es in den Zwei Flüssen üblich war. Elayne hatte kein Recht, so spöttisch zu lächeln. Ein silberner Bogen. Ha! »Wir sollten wirklich wissen, wonach wir suchen, oder zumindest einiges darüber.«
»Es muß ausreichen, Nynaeve. Du hast selbst gesagt, die Weisen Frauen behaupteten, der Schlüssel läge im Bedürfnis, je stärker, desto besser, und wir brauchen unbedingt etwas, sonst verpufft die versprochene Unterstützung für Rand wirkungslos, bis auf das, was Elaida beizutragen gewillt ist. Dazu lasse ich es nicht kommen, Nynaeve. Ganz gewiß nicht.«
»Nimm das Kinn herunter. Ich lasse es auch nicht soweit kommen, falls wir irgend etwas daran ändern können. Also können wir genausogut hier weitermachen.« Sie nahm Elayne an der Hand und schloß die Augen. Bedürfnis. Not. Sie hoffte, irgend etwas in ihr habe eine Ahnung, was eigentlich benötigt wurde. Vielleicht würde sich gar nichts ergeben. Bedürfnis. Mit einem Mal schien sich alles um sie herum zu verschieben. Sie spürte, wie Tel'aran'rhiod kippte und schwankte.
Augenblicklich riß sie die Augen auf. Jeder Schritt, der nur auf einem Bedürfnis beruhte, wurde zwangsläufig blind vollzogen, und während jeder sie wohl ihrem Ziel näher brachte, konnte er sie durchaus in eine Schlangengrube führen, oder ein Löwe, der bei der Jagd gestört wurde, biß ihr vielleicht ein Bein ab.
Löwen waren nicht zu sehen, aber was sie vorfand, war trotzdem beunruhigend. Es war heller Mittag, doch das störte sie nicht weiter. Die Zeit verlief hier anders. Sie und Elayne standen Hand in Hand auf einer gepflasterten Straße, umgeben von Backstein- und Natursteinbauten. Wohnhäuser und Geschäftsgebäude gleichermaßen waren mit kunstvollen Simsen und Friesen versehen. Verzierte Kuppeln schmückten Ziegeldächer, und über jede Straße hinweg zogen sich Brücken aus Stein oder Holz, und das manchmal im dritten oder gar vierten Stock. Müllhaufen — alte Kleidungsstücke und kaputte Möbel — waren an den Ecken aufgehäuft, und ganze Scharen von Ratten huschten dazwischen herum. Gelegentlich blieben die Tiere stehen und quiekten ihnen furchtlose Herausforderungen zu. Menschen, die im Traum die Randbezirke von Tel'aran'rhiod berührten, erschienen kurz und verschwanden ebenso schnell wieder. Ein Mann stürzte schreiend von einer der Brücken und war verschwunden, bevor er auf den Pflastersteinen aufschlug. Eine vor Angst heulende Frau in einem zerrissenen Kleid rannte ein Dutzend Schritte weit auf sie zu, bevor auch sie wieder verschwunden war. Abgehackte Schreie und Rufe warfen ihr Echo durch die Straßen, und ein paar Mal war wildes, rauhes Lachen zu hören, das klang, als sei der Lacher dem Wahnsinn nahe.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Elayne in besorgtem Tonfall.
In einiger Entfernung ragte ein kalkigweißer Pfeiler hoch über die anderen Türme auf, von denen viele durch Brücken verbunden waren, gegenüber denen die in ihrer unmittelbaren Umgebung niedrig wirkten. Sie befanden sich in Tar Valon, und zwar in jenem Teil der Stadt, in dem Nynaeve beim letzten Mal einen kurzen Blick auf Leane erhascht hatte. Leane war nicht gerade gesprächig gewesen; deshalb wußten sie nicht was die Frau dort getan hatte. Sie hatte lediglich lächelnd festgestellt, sie wolle das Geheimnis und die Legenden um die Aes Sedai damit vertiefen.
»Es spielt keine Rolle«, sagte Nynaeve tapfer. »Niemand in Tar Valon hat auch nur eine Ahnung von der Welt der Träume. Wir werden niemanden antreffen.« Dann drehte es ihr fast den Magen um, als plötzlich ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht erschien und auf sie zu taumelte. Er hatte keine Hände, und aus den Stümpfen spritzte Blut.
»Das hatte ich nicht im Sinn«, meinte Elayne kleinlaut.
»Laß uns weitersuchen.« Nynaeve schloß die Augen. Not.
Verschiebung.
Sie befanden sich in der Burg in einem der mit Wandteppichen geschmückten, kurvenreichen Gänge. Ein molliges Mädchen in Novizinnenkleidung tauchte mit einem Mal keine drei Schritt von ihnen entfernt aus dem Nichts auf. Sie riß die großen Augen noch weiter auf, als sie ihrer ansichtig wurde. »Bitte«, wimmerte sie. »Bitte?« Und war verschwunden.
Plötzlich keuchte Elayne aufgeregt: »Egwene!«