Nynaeve wirbelte herum, doch der Gang war menschenleer.
»Ich habe sie gesehen«, beharrte Elayne. »Ganz bestimmt!«
»Ich denke, sie kann Tel'aran'rhiod wie jeder andere auf ganz normalem Weg berühren«, erklärte ihr Nynaeve. »Laß uns damit weitermachen, weswegen wir hier hergekommen sind.« Sie fühlte sich immer nervöser. Wieder gaben sie sich die Hände. Not.
Verschiebung.
Es war kein gewöhnlicher Abstellraum. Sämtliche Wände waren mit Regalbrettern behängt, und zwei kurze Stellregale standen in der Mitte des Raums. Sauber angeordnet standen Reihen von Schachteln und Kästen verschiedenster Größen und Formen, einige davon beschnitzt oder lackiert, und darin lagen in Stoff gehüllte Gegenstände, dazu Skulpturen und Figurinen, eigenartige Gebilde, die anscheinend aus Metall oder Glas gefertigt waren, aus Kristall oder Stein oder glasiertem Porzellan. Nynaeve mußte gar nicht mehr sehen, um zu wissen, daß es sich um Objekte handelte, die mit der Einen Macht zu tun hatten, höchstwahrscheinlich Ter'Angreal, vielleicht auch einige Angreal und Sa'Angreal. Eine solche Sammlung der verschiedenartigsten Gegenstände, so sorgfältig eingepackt und aufbewahrt, und das mitten in der Burg, konnte aus nichts anderem bestehen.
»Ich glaube nicht, daß es einen Zweck hat, hier noch weiterzugehen«, sagte Elayne enttäuscht. »Ich weiß nicht, wie wir jemals etwas aus diesem Raum herausbekommen könnten.«
Nynaeve zupfte kurz an ihrem Zopf. Falls es hier wirklich etwas gab, was sie gebrauchen konnten — und daran bestand kein Zweifel, sofern die Weisen Frauen nicht gelogen hatten — dann mußte es auch einen Weg geben, das in der wachenden Welt zu erreichen. Angreal und ähnliche Gegenstände wurden gewöhnlich nicht so streng bewacht. Als sie noch in der Burg wohnte, hatte man lediglich ein Schloß an einer solchen Tür angebracht und eine Novizin davorgestellt Diese Tür hier bestand aus schweren Brettern mit einem mächtigen schwarzen Eisenschloß. Zweifellos war es abgeschlossen, aber im Geist stellte sie es sich unverschlossen und geöffnet vor.
Die Tür schwang auf, und dahinter erblickten sie einen Wachraum. An einer Wand standen schmale Stockbetten, an einer weiteren ein Gestell mit Hellebarden. Hinter einem schweren, abgewetzten Tisch, um den herum Hocker angeordnet waren, befand sich eine weitere, eisenbeschlagene Tür mit einem kleinen Gitter in Kopfhöhe darin.
Als sie sich wieder Elayne zuwandte, wurde ihr mit einem Mal bewußt, daß sich die Tür wieder geschlossen hatte. »Wenn wir hier nicht an das gelangen, was wir benötigen, dann vielleicht irgendwo anders. Ich meine, vielleicht wird etwas anderes dieselbe Wirkung haben. Wenigstens haben wir jetzt einen Hinweis bekommen. Ich glaube, das sind alles Ter'Angreal, bei denen noch niemand herausgefunden hat, wie man sie benützt. Das ist der einzige vorstellbare Grund, warum man sie so bewacht. Es wäre gefährlich, in ihrer Nähe die Macht zu gebrauchen.«
Elayne warf ihr einen verschmitzten Blick zu. »Aber wenn wir es erneut versuchen, wird es uns dann nicht genau zum gleichen Ort zurückbringen? Außer ... außer die Weisen Frauen hätten dir eine Methode gezeigt wie man einen bestimmten Weg von der Suche ausschließt.«
Das hatten sie nicht. Sie hatten sich überhaupt nicht darum gerissen, ihr etwas beizubringen. Doch an einem Ort, wo es genügte, sich ein Schloß offen vorzustellen, damit es sich tatsächlich öffnete, sollte alles möglich sein. »Das ist genau das, was wir tun werden. Wir denken ganz fest daran, daß sich das, was wir suchen, nicht in Tar Valon befindet.« Sie blickte mit gefurchter Stirn die Regale an und fügte hinzu: »Und ich wette, es handelt sich um einen Ter'Angreal, den niemand zu benützen weiß.« Obwohl sie noch keine Ahnung hatte, wie dies den Saal davon überzeugen könne, Rand zu unterstützen.
»Wir brauchen einen Ter'Angreal, der sich nicht in Tar Valon befindet«, sagte Elayne, als habe sie Mühe, sich selbst von dieser Notwendigkeit zu überzeugen. »Also gut. Gehen wir weiter.«
Sie streckte die Hände aus, und einen Augenblick später ergriff Nynaeve sie. Nynaeve war sich nicht sicher, wieso ausgerechnet sie diejenige war, die auf einer Weitersuche bestand. Sie wollte weg aus Salidar, anstatt einen Grund zum Bleiben zu finden. Aber wenn sie auf diese Weise sicherstellen könnte, daß die Aes Sedai in Salidar Rand unterstützten...
Not. Ein Ter'Angreal. Nicht in Tar Valon. Brennende Notwendigkeit.
Verschiebung.
Wo sie sich auch befinden mochten, diese von der Morgendämmerung erhellte Stadt war auf keinen Fall Tar Valon. Keine zwanzig Schritt entfernt verengte sich die breite Pflasterstraße zu einer weißen Steinbrücke, an deren beiden Enden Statuen standen, die sich über einen mit Mauern eingefaßten Kanal schwang. Fünfzig Schritt entfernt auf der anderen Seite befand sich eine weitere Brücke. Überall standen schmale Türmchen mit Rundbalkonen. Sie wirkten wie Spieße, die man durch runde, kunstvoll gegossene Pralinen gestoßen hatte. Jedes Gebäude war weiß. Die Türen und Fenster wiesen hohe Spitzbögen auf, manchmal sogar zwei oder drei Bögen übereinander. An den größeren Gebäuden erblickten sie lange Balkone mit weiß angestrichenen schmiedeeisernen Gittern und kunstvoll durchbrochenen Eisenornamenten, hinter denen sich die Bewohner leicht verbergen konnten. Von dort aus mußte man einen grandiosen Ausblick auf die Straßen und Kanäle haben. Auch weiße Kuppeln waren zu sehen, geschmückt mit roten oder goldenen Friesen, die oben genauso scharfe Spitzen hatten wie die Türme.
Not. Verschiebung.
Es konnte genausogut wiederum eine andere Stadt sein. Die Straße war eng und das Pflaster uneben. Zu beiden Seiten standen fünf- oder sechsstöckige Gebäude, deren weißer Verputz an vielen Stellen abgebröckelt war und den Blick auf die Backsteine freigab. Hier gab es keine Balkone. Fliegen summten umher, und es war schwierig festzustellen, ob es immer noch die Morgendämmerung war, die lange Schatten auf den Boden warf.
Sie tauschten Blicke. Es schien unwahrscheinlich, daß sie hier einen Ter'Angreal finden würden, aber sie waren nun zu weit gekommen, um aufzugeben. Notwendigkeit.
Verschiebung.
Nynaeve mußte niesen, bevor sie die Augen öffnete, und dann noch einmal. Jedes Verschieben ihrer Füße wirbelte Staubwolken auf. Dieser Abstellraum glich absolut nicht jenem in der Burg. Truhen, Kisten und Fässer standen in dem engen Raum herum, waren wie auch immer aufeinandergetürmt, so daß dazwischen kaum Platz verblieb, und über allem lag eine dicke Staubschicht. Nynaeve mußte so stark niesen, daß sie das Gefühl hatte, es zöge ihr die Schuhe aus — und der Staub war verschwunden. Jedes bißchen. Auf Elaynes Miene zeigte sich ein leichtes, selbstzufriedenes Lächeln. Nynaeve sagte nichts und stellte sich lediglich den Raum ohne Staub vor. Sie hätte daran denken sollen.
Als sie das Durcheinander überblickte, mußte sie unwillkürlich seufzen. Der Raum war nicht größer als jener, in dem ihre schlafenden Körper in Salidar ruhten, aber dies alles zu durchsuchen... »Das wird Wochen dauern.«
»Wir könnten es noch einmal versuchen. Dann wissen wir wenigstens, womit wir es zu tun haben.« Bei Elayne klang das genauso zweifelnd, wie sich Nynaeve fühlte.
Aber trotzdem war der Vorschlag genauso gut wie jeder andere. Nynaeve schloß also die Augen, und erneut wurde jene Verschiebung spürbar.
Als sie sich umsah, stand sie am von der Tür entfernten Ende des schmalen Durchgangs vor einer hüfthohen hölzernen Truhe, die aussah, als habe man sie mit Vorschlaghämmern bearbeitet. Die Eisenbeschläge schienen nur noch aus Rost zu bestehen. Nynaeve konnte sich keinen unwahrscheinlicheren Aufbewahrungsort für etwas Nützliches, besonders einen Ter'Angreal, vorstellen. Elayne stand neben ihr und sah die Truhe an.