Nynaeve legte eine Hand auf den Deckel — die Scharniere würden sich problemlos bewegen lassen —und hob ihn an. Sie hörte noch nicht einmal die Andeutung eines Quietschens. Drinnen lagen zwei stark verrostete Schwerter und ein braun verfärbter Brustharnisch mit einem großen Loch auf einem Durcheinander von in Lumpen gehüllten Paketen und einem Haufen von Unrat, der zum Teil von einer Kleiderpresse zum Bügeln zu stammen schienen, zum Teil geradewegs aus einigen Küchen.
Elayne tastete nach einem kleinen Kessel mit abgebrochenem Schnabel. »Vielleicht nicht Wochen, aber zumindest den Rest der Nacht.«
»Noch einmal?« schlug Nynaeve vor. »Es kann nicht schaden.« Elayne zuckte die Achseln. Augen zu. Not.
Nynaeve streckte die Hand aus und sie berührte etwas Hartes, Rundes, das in zerschlissenen Stoff gehüllt war. Als sie die Augen öffnete, sah sie, daß Elaynes Hand neben der ihren ruhte. Das Grinsen der jüngeren Frau war so breit, daß es ihr Gesicht in zwei Hälften zu teilen schien.
Es herauszuholen war nicht ganz einfach. Es war nicht klein, und sie mußten zerfledderte Mäntel und verbeulte Töpfe und Pakete beiseite räumen, die in ihren Händen zerfielen und Skulpturen, geschnitzte Tierfiguren und alle Arten von Schrott umhüllen. Sobald sie den Gegenstand freigelegt hatten, mußten sie ihn gemeinsam festhalten: eine breite, abgeflachte Scheibe, die in verrottetes Tuch gehüllt war. Als sie die Hülle beseitigt hatten, stellte es sich als eine flache Schale aus dickem Kristall heraus, die mehr als zwei Fuß im Durchmesser maß und innen am tiefsten Punkt mit etwas wie quellenden Wolken graviert war.
»Nynaeve«, sagte Elayne bedächtig, »ich glaube, das ist...«
Nynaeve fuhr zusammen und hätte beinahe die Schale fallen gelassen, als diese sich plötzlich wäßrig blau verfärbte und sich die eingravierten Wolken langsam verschoben. Einen Herzschlag später war das Kristall wieder klar, und die Wolken standen still. Aber sie war sicher, daß sich die Wolken nicht mehr am gleichen Fleck befanden wie zuvor.
»Es ist einer«, rief Elayne. »Es ist ein Ter'Angreal Und ich verwette alles darauf, daß er mit dem Wetter zu tun hat. Aber ich bin nicht stark genug, um allein mit ihm zu arbeiten.«
Nynaeve sog erst einmal tief Luft ein und bemühte sich, ihren Herzschlag zu beruhigen. »Mach das nicht! Ist dir nicht klar, daß du dich selbst ausbrennen könntest, wenn du mit einem Ter'Angreal arbeitest, von dem du nicht einmal weißt, wozu er dient?«
Das törichte Mädchen warf ihr doch tatsächlich einen überraschten Blick zu. »Wir sind schließlich genau deshalb hierhergekommen, Nynaeve. Und glaubst du, es gäbe irgend jemand, der mehr von Ter'Angreal versteht als ich?«
Nynaeve schnaubte. Nur weil die Frau recht hatte, hieß das nicht, daß man ihr nicht einen kleinen Warnschuß verpassen sollte. »Ich bestreite ja gar nicht, daß es wundervoll wäre, wenn dieses Ding hier etwas an dem Wetter ändern könnte — bestimmt kann es das —, aber ich sehe nicht ein, was es uns nützen könnte. Das wird den Saal in bezug auf Rand und seine notwendige Unterstützung auch nicht weiter beeinflussen.«
»Was man braucht, ist nicht immer das, was man haben möchte«, zitierte Elayne. »Lini hat das immer gesagt, wenn sie mich nicht zum Reiten wegließ oder wenn ich nicht auf Bäume klettern durfte, aber vielleicht kann man es auch hier anwenden.«
Nynaeve schnaubte erneut. Es mochte ja zutreffen, aber jetzt wollte sie einfach das haben, was sie wünschte. War das zuviel verlangt?
Die Schale verblich in ihren Händen, und nun war es an Elayne, überrascht zusammenzufahren und zu murren, daß sie sich niemals daran gewöhnen werde. Auch die Truhe war wieder geschlossen.
»Nynaeve, als ich die Macht in diese Schale lenkte, spürte ich... Nynaeve, das ist nicht der einzige Ter'Angreal in diesem Raum. Ich glaube, es sind auch Angreal hier, vielleicht sogar Sa'Angreal.«
»Hier?« fragte Nynaeve ungläubig und blickte sich in dem vollgestopften kleinen Raum um. Aber wenn schon einer da war, warum nicht auch zwei? Oder zehn, oder hundert? »Licht, benutze die Macht nicht noch einmal! Was geschieht, wenn du einen davon durch Zufall auslöst? Du könntest durchaus...«
»Ich weiß, was ich tue, Nynaeve. Ganz bestimmt. Das nächste, was wir tun müssen, ist, herauszufinden, wo genau sich dieser Raum befindet.«
Das stellte sich als nicht gerade leichte Aufgabe heraus. Obwohl die Scharniere festgerostet schienen, war die Tür kein Hindernis, nicht in Tel'aran'rhiod. Die Probleme kamen erst danach. Der düstere, enge Korridor wies nur ein einziges kleines Fenster auf, und aus dem konnte man lediglich eine weiß gestrichene Wand, deren Putz bereits abblätterte, auf der anderen Straßenseite erkennen. Es half auch nichts, daß sie steile und enge Wendeltreppen herunterstiegen. Die Straße war vielleicht die erste in diesem Stadtviertel, die sie zu Gesicht bekamen, wo sie sich auch befinden mochten, aber da alle Gebäude sich so ähnlich sahen, konnten sie nicht einmal das mit Bestimmtheit sagen. Über den winzigen Läden in der Straße hingen keine Schilder, und Schenken zeichneten sich lediglich durch blau gestrichene Türen aus. Rot schien dagegen für Tavernen zu stehen.
Nynaeve machte sich auf die Suche nach einem Anhaltspunkt, um feststellen zu können, wo sie sich befanden. Etwas, das ihr den Namen dieser Stadt verriet. Jede Straße, durch die sie kam, erschien ihr genau wie die vorherige. Doch dann fand sie schnell eine Brücke aus einfachem Naturstein und ohne die Statuen, die sie bei den anderen gesehen hatten. Unter dem Brückenbogen sah sie allerdings nur den Kanal, der sich in einiger Entfernung mit anderen kreuzte, sowie weitere Brücken und noch mehr Gebäude mit bröckelndem, weißen Verputz.
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie allein war. »Elayne.« Stille, bis auf das Echo ihrer eigenen Stimme. »Elayne? Elayne!«
Die Frau mit dem goldenen Haar erschien plötzlich an einer Ecke nahe dem Fuß der Brücke. »Da bist du ja«, sagte Elayne. »Gegen diesen Ort wirkt ein Kaninchenbau sorgfältig geplant. Ich habe mich einen Augenblick lang umgedreht, und schon warst du weg. Hast du etwas gefunden?«
»Nichts.« Nynaeve blickte zu dem Kanal hinunter, bevor sie zu Elayne hinging. »Nichts, was uns weiterhelfen könnte.«
»Wenigstens können wir einigermaßen sicher sein, in welcher Stadt wir uns befinden: Ebou Dar. Es muß so sein.« Aus Elaynes Kurzmantel und der Pumphose wurde ein grünes Abendkleid aus Seide mit reichlich Spitzen an den Manschetten, einem hohen, kunstvoll bestickten Kragen und einem so tiefen Ausschnitt, daß man ziemlich viel von ihrem Busen sah. »Ich kann mich an keine andere Stadt mit so vielen Kanälen erinnern außer Illian, und das hier ist ganz bestimmt nicht Illian.«
»Ich hoffe nicht«, sagte Nynaeve mit schwacher Stimme. Es war ihr noch gar nicht in den Sinn gekommen, daß eine blinde Suche sie geradewegs in Sammaels Arme führen könnte. Auch ihr Kleid hatte sich verändert, wie sie erst jetzt bemerkte, und zwar zu einem dunkelblauen Seidenkleid, wie man es für eine Reise anzog. Dazu trug sie einen leinenen Umhang, der gegen den Staub schützte. Sie ließ den Umhang wieder verschwinden, den Rest aber so, wie er war.
»Ebou Dar würde dir gefallen, Nynaeve. Die weisen Frauen aus dieser Stadt wissen mehr über Kräuter als irgend jemand sonst. Sie können alles damit heilen. Das ist auch bitter nötig, denn die Ebou Dari duellieren sich schon eines Niesens wegen, ob Adlige oder Gemeine, Männer oder Frauen.« Elayne kicherte. »Thom sagt, es habe hier Leoparden gegeben, aber sie hätten die Gegend verlassen, weil sie unmöglich mit den Ebou Dari zusammenleben konnten.«
»Das ist alles schön und gut«, erwiderte Nynaeve, »aber sie können sich, was mich angeht, gern gegenseitig umbringen. Elayne, wir hätten genausogut die Ringe weglegen und schlafen können. Ich könnte den Weg zurück zu diesem Raum nicht finden, und wenn sie mir die Stola dafür anbieten würden. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, eine Karte zu zeichnen...« Sie verzog das Gesicht. Sie hätte sich auch für die wachende Welt Flügel wünschen können. Könnten sie eine Karte aus Tel'aran'rhiod mitnehmen, wäre es auch möglich, die Schale mitzuführen.