Daß diese Frau den Schwarzen Ajah angehörte, war ebensogut möglich wie bei der anderen, aber sie konnten natürlich auch aus Salidar kommen. Eine, oder auch beide. Egwene hatte sie allerdings noch nie zusammen gesehen oder in Gesellschaft einer anderen aus Salidar. Theoretisch konnten beide auch aus der Burg selbst kommen. Die Spaltung dort war so verworren, daß sehr wohl die eine Seite die andere ausspionieren würde. Früher oder später würden die Aes Sedai der Burg ohnehin von Tel'aran'rhiod erfahren, falls das nicht sowieso schon der Fall gewesen war. Diese beiden Fremden brachten nur endlose Fragen, die unbeantwortet blieben. Egwene blieb nur eines übrig, nämlich, beide zu meiden.
Natürlich bemühte sie sich in letzter Zeit, alle zu meiden, die sich in der Welt der Träume aufhielten. Sie hatte sich angewöhnt, sich häufig umzublicken, weil sie glaubte, jemand schleiche sich hinter ihr an, oder auch Dinge zu sehen, die gar nicht da waren. Sie glaubte, aus den Augenwinkeln Blicke auf Rand, Perrin und sogar Lan erhascht zu haben. Selbstverständlich bildete sie sich das nur ein, oder sie hatte durch puren Zufall ihre Träume einen Augenblick lang berührt, aber sie fühlte sich dadurch so nervös wie eine Katze im Hundezwinger.
Sie runzelte die Stirn — oder besser: sie hätte das getan, hätte sie ein Gesicht besessen. Eines dieser Lichter sah aus wie... Es kam ihr eigentlich gar nicht bekannt vor; sie erkannte es wirklich nicht. Aber es schien ... sie anzulocken. Wohin sie auch blickte, nach ein paar Momenten kehrte ihr Blick zu jenem glitzernden Punkt zurück.
Vielleicht sollte sie erneut versuchen, Salidar zu finden. Das hätte aber bedeutet, daß sie darauf warten mußte, bis Nynaeve und Elayne Tel'aran'rhiod verlassen hatten. Deren Träume erkannte sie natürlich sofort — sie konnte sie im Schlaf finden, wie sie unter lautlosem Kichern feststellte. Doch ein Dutzend Versuche, Salidar zu finden, hatte bisher genau die gleichen Resultate erbracht wie ihr Bemühen, das Wachgewebe um Rands Träume zu durchdringen. Entfernungen und Position hier hatten absolut nichts mit denen der wachenden Welt zu tun. Amys behauptete sogar, hier gebe es weder Entfernung noch Position. Andererseits konnte sie genausogut...
Überraschenderweise begann mit einem Mal der Lichtpunkt, der ihren Blick immer wieder anzog, auf sie zuzutreiben. Er schwoll an, und was zuerst ein ferner Stern gewesen war, wurde nun zu einem weißen Vollmond. Ein Funken der Angst keimte in ihr auf. Einen Traum zu berühren und hineinzuspähen war einfach — wie ein Finger das Wasser so leicht berührt, daß das Wasser am Finger haftet aber die Oberfläche nicht bewegt wird — doch das alles richtete sich nach ihrem freien Willen. Eine Traumgängerin suchte sich den Traum aus, nicht umgekehrt. Sie befahl in Gedanken dem Traum, sich wegzubegeben, stellte sich die sternübersäte Schwärze wieder in Bewegung vor. Doch nur dieses eine Licht rührte sich und dehnte sich so aus, daß ihr gesamtes Gesichtsfeld von weißem Licht erfüllt wurde. Verzweifelt versuchte sie, sich loszureißen. Weißes Licht. Nichts als weißes Licht, das sie in sich aufnahm...
Sie blinzelte und sah sich erstaunt um. Ein ganzer Wald mächtiger weißer Säulen erstreckte sich um sie. Die meisten erschienen ihr verschwommen, undeutlich, besonders die am weitesten entfernten, aber eines konnte sie ganz deutlich erkennen: Gawyn, der über den weiß gefliesten Fußboden auf sie zu schritt. Er trug einen einfachen grünen Rock, und auf seiner Miene mischten sich Angst und Erleichterung. Jedenfalls war es annähernd Gawyns Gesicht. Gawyn sah vielleicht nicht so blendend aus wie sein Halbbruder Galad, doch er war trotzdem ein sehr gut aussehender Mann. Aber dieses Gesicht kam ihr ... gewöhnlich vor. Sie versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht, jedenfalls nicht nennenswert Ihr Rücken berührte eine der Säulen, und ihre Handgelenke wurden von Ketten hoch über ihrem Kopf festgehalten.
Das mußte Gawyns Traum sein. Unter all diesen ungezählten Lichtpunkten hatte sie ausgerechnet bei seinem Traum haltgemacht. Und war irgendwie hineingezogen worden. Wie — diese Frage mußte sie sich für später aufheben. Jetzt wollte sie vor allem wissen, wieso er davon träumte, sie gefangenzuhalten. Energisch hielt sie sich an die Wahrheit, die in ihrem Gehirn schlummerte. Dies war ein Traum, der Traum eines anderen Menschen. Sie war immer noch sie selbst und nicht, was er in ihr sehen wollte. Nichts hier konnte ihr wahres Ich berühren. Diese Wahrheiten wiederholte sie wie ein Gebet in ihrem Kopf. Das machte es ihr wohl schwer, an etwas anderes zu denken, aber solange sie daran mit aller Macht festhielt, konnte sie es riskieren, hier zu verweilen. Wenigstens solange, bis sie herausfand, welche eigenartigen Zwangsvorstellungen diesem Mann im Kopf herumspukten. Sie gefangenzuhalten!
Mit einem Mal erblühte eine mächtige Flammenfontäne über den Fliesen, und beißender, gelber Qualm stieg empor. Rand trat aus diesem Inferno heraus, ganz in goldbesticktes Rot gekleidet, wie es einem König gebührte. Er stand Gawyn gegenüber, und Feuer und Qualm verblichen. Nur sah er kaum wie der echte Rand aus. Der wirkliche Rand war etwa genauso groß und breit wie Gawyn, während dieses Traumbild Gawyn um einen Kopf überragte. Das Gesicht erinnerte nur vage an Rand, war gröber und härter, als es sein sollte, das kalte Gesicht eines Mörders. Dieser Mann verzog höhnisch den Mund. »Du wirst sie nicht bekommen«, stieß er hervor.
»Du wirst sie nicht behalten«, erwiderte Gawyn ruhig, und plötzlich hielten beide Männer Schwerter in den Händen.
Egwene starrte die Szene mit aufgerissenen Augen an. Nicht Gawyn war es, der sie gefangenhielt. Er träumte davon, sie zu befreien! Aus Rands Gefangenschaft! Es war Zeit, diesen Wahnsinn hinter sich zu lassen. Sie konzentrierte sich darauf, draußen zu sein und dies von außen her zu betrachten. Nichts geschah.
Die Schwerter klirrten aufeinander, und die beiden Männer tanzten einen tödlichen Tanz. Tödlich jedenfalls, wäre es nicht ein Traum gewesen. Es war alles Unsinn. Ausgerechnet von einem Duell mit Schwertern zu träumen. Und es war kein Alptraum; alles wirkte echt vielleicht ein wenig verschwommen, aber keineswegs verfärbt. »Die Träume eines Mannes stellen ein Labyrinth dar, das auch er selbst nicht kennt«, hatte Bair ihr einmal gesagt.
Egwene schloß die Augen und konzentrierte sich ganz stark. Draußen. Sie befand sich draußen und blickte hinein. Kein Platz für etwas anderes in ihrem Geist. Draußen, und hineinblicken. Draußen, hineinblicken. Draußen!
Sie öffnete erneut die Augen. Der Kampf strebte seinem Höhepunkt zu. Gawyns Klinge fuhr tief in Rands Brust, und als Rand zusammenbrach, glitt die Klinge wieder heraus und vollführte einen schimmernden Halbkreis. Rands Kopf purzelte über den Fußboden beinahe vor ihre Füße. Er blieb liegen, so daß seine Augen zu ihr aufblickten. Ein Schrei stieg bis in ihre Kehle auf, ein Schrei, den sie nicht unterdrücken konnte. Ein Traum. Lediglich ein Traum. Doch diese starren, toten Augen erschienen sehr real.
Dann stand Gawyn vor ihr, und sein Schwert steckte wieder in der Scheide. Rands Kopf und Körper waren verschwunden. Gawyn faßte nach den Handschellen, die sie festhielten, und dann waren auch diese nicht mehr vorhanden.
»Ich wußte, du würdest kommen«, hauchte sie und fuhr dabei zusammen. Sie war sie selbst! Sie konnte dem Traum nicht nachgeben, nicht einen Augenblick lang, sonst säße sie wirklich und wahrhaftig in der Falle.
Lächelnd nahm Gawyn sie auf seine Arme. »Ich bin froh, daß du es gewußt hast«, sagte er. »Ich wäre früher gekommen, aber es war mir nicht möglich. Ich hätte dich niemals so lange in dieser Gefahr zurücklassen sollen. Kannst du mir verzeihen?«